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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Tagträume

Autor
Autor:
Julia Schneider-Ermer

sind Phantasien, denen wir uns in Mußestunden gerne hingeben, deren Inhalt wir aber kaum jemand verraten würden. Eine bevorzugte Gelegenheit für solche Gedankenspiele ist die Zeit vor dem Einschlafen; dann mag der Inhalt des Tagtraums den Traum im Schlaf beeinflussen. Aber anders als im Schlaftraum, bei dem der Charakter einer Wunscherfüllung so oft bis zur Unkenntlichkeit versteckt ist, gestatten wir uns bei den Wachträumen ganz offen die imaginäre Erfüllung unserer ehrgeizigen und unserer erotischen Wünsche. Oft sind die Vorstellungen intensiv, daß man mit allen Sinnen wahrzunehmen meint, was doch nur im Kopf vorgeht. Darüber wird sogar vor übergehend die reale Umwelt vergessen. Manche Tagträume läßt män mit geringen Variationen immer wieder vor sich abspielen, andere werden zu ganzen Tagtraum-»Romanen« fortgesetzt. Die Intensität dieser Wachträumerei steigt mit den Enttäuschungen und Versagungen (Frustration) des wirklichen Lebens. Sie steht zugleich in einem umgekehrten Verhältnis zu den Aktivitäten, die man ergreifen will und kann. Gemeinhin ist die Häufigkeit der Wachträume am größten während der Pubertät und frühen Adoleszenz, also in einem Lebensalter, in dem man noch viel erwarten, aber wenig ausrichten kann. Natürlich umfassen Wachträume auch manches von dem, was man nicht tun darf. Insoweit sind sie ein Ventil für aggressive und abwegige sexuelle Wünsche. Wie die Schlafträume nehmen sie Elemente der realen Erfahrung in sich auf, kombinieren sie aber auf eigenwillige Weise und geben ihnen einen wunschgerechten Ausgang. In ihnen erfüllen sich oft Sehnsüchte, die aus der Kindheit stammen, auch wenn sie im Wachleben längst als unerreichbar und unangemessen erkannt worden sind. Viele Wachträume scheinen eher unseren Ehrgeiz, unsere Größensucht zu befriedigen als unsere erotischen Begierden. Doch auch wenn wir uns Heldentaten vorstellen, die wir begehen könnten, und Erfolge, mit denen wir belohnt werden möchten, spielt dabei meist die Steigerung unserer erotischen Anziehungskraft eine Rolle oder der Gewinn eines ersehnten Partners, der uns als Siegespreis zufallen müßte. Der Partner, dem unser Traum gilt, mag das Abbild einer wirklichen Person aus unserer realen Umwelt sein, zu der wir sonst nur oberflächliche Beziehungen haben. Vielleicht aber machen wir auch einen Filmstar, eine Romanfigur oder einen Märchenhelden zu unserem »Partner«. Meist werden die Personen des Tagtraumes Phantasiegestalten sein, die wir aus verschiedenen Menschen unserer Erfahrung zusammengesetzt haben. Im Mittelpunkt jedes Wachtraumes steht aber das eigene Ich. Sigmund Freud sah in den Tagträumen die Quelle der dichterischen Erfindungsgabe. Tatsächlich läßt sich in den meisten Unterhaltungsromanen und gängigen Filmen leicht erkennen, daß sie im Kern einen für zahllose Menschen typischen Wunschtraum darstellen. Je anspruchsvoller ein Dichter ist, desto mehr nähert er seine Phantasien der Realität. Viele tragische Dichtungen stellen im Grunde eine Erfüllung verbotener Wünsche dar, die – wie im Alptraum während des Schlafes – Angst und Entsetzen auslösen.

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