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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Kindheit

Autor
Autor:
Julia Schneider-Ermer

die ersten zwölf bis vierzehn Lebensjahre, in denen der Mensch seine entscheidende Prägung erfährt. In dieser Periode zeichnen sich verschiedene Etappen ab. Im ersten Lebensjahr steht der Säugling in einer beinahe ebenso abhängi gen Beziehung zur Mutter wie das Kind vor der Geburt. Er begreift sich noch kaum als selbständiges Wesen, kann Ich und Außenwelt noch nicht sicher unterscheiden. Allmählich löst sich das Kind aus dieser Symbiose. Die erste, orale Phase der frühkindlichen Sexualentwicklung geht in die zweite, die anale über. Dazu wird ein neuer Verzicht gefordert. Irgendwann, meist durch äußere Ereignisse wie das Erscheinen eines Geschwister-Kindes, werden die voyeuristischen und exhibitionistischen Partialtriebe geweckt, die in den Dienst der kindlichen Sexualforschung treten. Das sexuelle Interesse richtet sich nun auf das männliche Geschlechtsglied und sein weibliches Gegenstück, die Klitoris. Diese phallische Phase führt beim Knaben zu dem Konflikt zwischen der Liebesbeziehung der Mutter und der entsprechenden Rivalität zum Vater und der Abhängigkeit vom Vater, den er zugleich zum Vorbild nimmt. Die Oedipus-Situation wird verschärft durch die Angst, zur Strafe für die sexuellen Begierden und die rebellische Haltung des Penis beraubt zu werden. Unter dem Druck des Kastrations-Komplexes wird die sexuelle Entwicklung unterbrochen. Zwischen dem vierten oder fünften Lebensjahr und dem Beginn der Pubertät erstreckt sich die Latenz-Zeit, in der die sexuellen Strebungen mehr oder weniger zurückgetreten sind. Die sinnliche Liebe zur Mutter hat sich in eine zärtliche verwandelt. Aus der Liebe und Rivalität zum Vater hat sich ein ambivalentes Verhältnis er geben, das oft ein Leben lang in der Schwebe bleibt. Dabei sind die Gebote des Vaters verinnerlicht worden. Die Identifikation des Knaben mit dem Vater wird zum Grundstock des Über-Ich. In anderer Weise erlebt das Mädchen die phallische Phase. Der Vergleich zwischen dem Penis des Knaben und der eigenen Klitoris erweckt den Eindruck einer Benachteiligung (Penisneid), zumal die Scheide noch kaum eine Rolle spielt, der Uterus noch nicht entdeckt ist und das auffälligste weibliche Geschlechtsmerkmal, die Brüste noch nicht entwickelt sind. Dazu kommt in einer männlich bestimmten, partriarchalischen Gesellschaft der Zwang zur Annahme der weiblichen Geschlechtsrolle mit ihren anscheinend minderen Rechten. Das Mädchen wendet sich zunächst von der Mutter ab, und dem Vater zu. Wenn es entdeckt, daß es die Mutter nicht zu ersetzen vermag, identifiziert es sich mit der Mutter und nimmt sie zum Vorbild. Während beim Knaben als Folge der Oedipus-Situation die erste heterosexuelle Beziehung wesentlich eingeschränkt wird, ist der sogenannte Elektra-Komplex erst der Anfang der heterosexuellen Ausrichtung des Mädchens. Während in der Entwicklung des Mannes mit der Inzest-Schranke in der Beziehung zur Mutter eine Spaltung der Libido in eine sinnliche und eine zärtliche Richtung beginnt, die man in der Gegenüberstellung von »Mutter« und »Dirne« symbolisiert, kann das Verhältnis des Mädchens zum Vater für eine einheitliche Liebeswahl der Frau vorbildlich bleiben. Das Verbot wirkt zwar auch hier nach, indem später die verbotene, die heimliche Liebe bevorzugt wird; aber es ist sehr viel weniger einschneidend als beim Manne. Deshalb entwickelt sich beim Mädchen das Über-Ich (Gewissen) weniger streng. Für die Bedeutung der ersten Lebensjahre muß man sich vergegenwärtigen, daß jedes Kind von neuem die Eigenschaften lernen muß, die den Menschen auszeichnen: den aufrechten Gang, die Sprache, die Erkenntnis der Wirklichkeit durch den Verstand. Vielleicht hängt es mit der Größe dieser Aufgabe zusammen, daß das menschliche Kind so lange von seinen Eltern abhängig bleibt. Dennoch muß es schon in dieser Lebenszeit auf die Ablösung aus der Familie, auf die Anforderungen der Selbständigkeit und auf die Einordnung in größere Gemeinschaften vorbereitet werden. Dazu gehört wesentlich, daß das Triebwesen Kind lernt, sich in die menschliche Kultur zu fügen. Vor allem in der Latenzzeit baut die Erziehung die Hemmungen wie Scham und Ekel auf, die das Triebleben später gleichsam kanalisieren. Nur durch ein gewisses Maß an Triebunterdrückung (Repression) scheint es möglich, der Neigung zum Rückfall in die kindliche (infantile) Triebhaftigkeit entgegenzuwirken, der Regression. Die entscheidende Schwierigkeit der Erziehung liegt darin, weder der Regression zu viel Spielraum zu lassen, noch die Repression so weit zu treiben, daß die Lebenskraft gefährdet wird. Die Gemeinschaft der Familie wird vorbildlich für alle Beziehungen des Kindes zu den Mitmenschen. Am Vater gewinnt der Knabe den Maßstab für die eigene Männlichkeit; die Mutter wird für ihn zum Imago der Frau überhaupt. Ähnlich richtet sich das Mädchen für das geschlechtliche Selbstverständnis nach der Mutter und für die Beziehung zum Gegengeschlecht nach dem Vater. Für beide Geschlechter verkörpert in unserer Gesellschaft der Vater die Autorität. Vor allem für den Knaben wird die Mischung aus Gehorsam und Rebellion gegenüber dem Vater zum Muster jedes späteren Verhältnisses zu Lehrern, Vorgesetzten, politischen Autoritäten. Für das Mädchen wird die Abhängigkeit von der väterlichen Autorität stärker durch die Liebesbeziehung gemildert, und es fühlt sich eher durch die Gebote der Mutter beschränkt. Der Knabe sucht Liebe vor allem in seiner Beziehung zur Mutter, und er möchte sie geradezu zur Verbündeten gegen die Strenge des Vaters machen. Erst neuerdings beginnt sich dieses Familien-Muster zu verändern. Die Bedeutung des Vaters hat sich vermindert, die der Mutter vermehrt. Oft muß sie in sich die traditionellen Funktionen beider Elternteile vereinen. Wir scheinen in eine »vaterlose Gesellschaft« übergegangen zu sein. Die wichtigste Erfahrung der Kind heit jedoch ist die Erfahrung der Liebe. Es kann erleben, was es heißt, geliebt zu werden, und kann lernen wiederzulieben. Diese Liebe kann ebenso mit der körperlichen Zärtlichkeit sinnliche Befriedigung gewähren wie das Gefühl der Zugehörigkeit und Geborgenheit vermitteln. Die passive Liebe wird als Beweis für den eigenen Wert erfahren, die aktive Liebe richtet alle Anstrengungen auf ein persönliches Ziel aus. Der Mangel sinnlicher Erfahrung kann zu Frustrationen führen, die jede Möglichkeit zur Lebensfreude gefährlich einschränken. Der Mangel an Geborgenheit kann ein Gefühl der Unsicherheit zur Folge haben, das sich nie mehr ganz überwinden läßt. Auf der anderen Seite steht die Gefahr der Verwöhnung, der Abkapselung im Familienverband, aus dem sich ein Kind kaum noch lösen könnte, um eigene Beziehungen einzugehen. Es ist eines der wichtigsten Ergebnisse der Tiefenpsychologie, daß sie die entscheidende Bedeutung der frühen Kindheit offengelegt hat. Sie widerlegte die traditionelle Auffassung, daß die Sexualität erst mit der Pubertät einsetze, und durchbrach die Verdrängung, infolge der die frühkindlichen Sexualphasen vergessen werden (vgl. Amnesie). Sie belegte wissenschaftlich eine alte Einsicht, die sich in dem Satz niedergeschlagen hat: »Das Kind ist der Vater des Mannes.« Geradeso ist freilich das Mädchen die Mutter der Frau. Niemand kann einen anderen Menschen wirklich verstehen, ohne die wichtigsten Ver hältnisse und Ereignisse seiner Kindheit zu kennen. In die Kindheit fällt noch eine Art Übergang aus dem familiären Kreis in die größere Gemeinschaft, nämlich die ersten Jahre der Schulzeit. Hier muß sich das Kind auf Fremde einstellen, auf Kameraden statt auf Geschwister, auf Lehrer statt auf Eltern. Hier werden eher Leistungen verlangt als Liebe gewährt. Stärker als zuvor wird es nötig, sich mit der Wirklichkeit der Außenwelt auseinanderzusetzen und von dem Wunschdenken Abschied zu nehmen. Das Kind muß in einem neuen Bereich lernen, daß sich die Realität nicht nach dem Lustprinzip richtet. Die Konflikte zwischen Trieb und Kultur, zwischen individuellem Bedürfnis und Anpassung an die Gemeinschaft, die im wesentlichen während der Kindheit ausgetragen werden müssen, hinterlassen so oder so Narben, die ebenso zum Charakter beitragen wie die Anlage. Die Art und Weise, wie sich ein Erwachsener im Leben einrichtet, wie er es bewältigt oder auch an ihm scheitert, richtet sich entscheidend danach, wie in seiner Kindheit die Weichen gestellt worden sind.

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