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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Geschlechtsrolle

Autor
Autor:
Irene Roubicek-Solms

das Verhalten, das eine bestimmte Gesellschaft von dem Manne bzw. von der Frau erwartet, und der Anteil, den sie jedem der Geschlechter zuweist. Was wir in unserer Kultur und dank unserer Traditionen für typisch männlich oder typisch weiblich halten, ist zu einem sehr großen Teil nicht in der Natur der Geschlechter begründet, sondern Ausdruck der Geschlechtsrollen, die Mann und Frau schon so lange spielen, daß sie sie als wesensgemäß empfinden. In anderen Kulturen herrschen die Frauen, oder sie sind es, denen die körperlich schweren Aufgaben zufallen. Manchmal werden gerade die Männer aufs Heim verwiesen, und bei ihnen zeigt sich das gefühlvolle Wesen, wie wir es den Frauen zuschreiben. In manchen Gesellschafts ordnungen sind die Geschlechtsrollen in den einzelnen Schichten unterschiedlich ausgeprägt. So läßt sich auch bei uns noch immer in einem Teil des Kleinbürgertums eine stärkere Dominanz der Frauen ausmachen, als sie sonst üblich ist. Zur Geschlechtsrolle gehören in jedem Falle nicht nur Eigenschaften und Verhaltensweisen, die als positiv gelten, sondern auch solche, die eher belächelt oder sogar abschätzig beurteilt werden. Manche Untugenden werden so sehr als geschlechtstypisch betrachtet, daß man ohne sie nicht als »richtiger Kerl« oder »wahre Frau« gelten würde. Andere Merkmale werden einem der Geschlechter zugeschrieben, obwohl sie sich gerade so oft bei dem anderen oder dort sogar häufiger finden. Die Vorstellungen von der Geschlechtsrolle sind Klischees, die der Vielfalt der Erscheinungen nicht gerecht werden. In diesem Sinne gehören zur Geschlechtsrolle des Mannes: Körperkraft, Tatendrang, Eignung zur Herrschaft, nüchterner Sachverstand, knappe Redeweise, schöpferische Gaben, Körperbeherrschung, (zum Beispiel im Sport), Lust am Kampf bis zum Krieg, relativ offene Darstellung des sexuellen Interesses (zum Beispiel auch in der Form von Zoten), Kameradschaft mit anderen Männern bei gleichzeitiger Rivalität in »fairem« Streit, gelegentlich Ausbruch aus den Regeln (zum Beispiel als Rebellion, aber auch etwa in einem Saufgelage). Der Frau sind gleichsam vorgeschrie ben : körperliche Schwäche (ungeachtet ihrer Leistung während der Schwangerschaft und beim Gebären), Neigung zur Bequemlichkeit, Sehnsucht nach Unterwerfung, Gefühlsseligkeit, Schwatzhaftigkeit, natürliche Anmut der Körperbewegung (zum Beispiel im Tanz), Vermeiden des Kampfes bis zur Feigheit, Unfähigkeit zur gleichgeschlechtlichen Kameradschaft, Ausdruck der Rivalität in »Listen und Tücken«, verstecktes Sexualinteresse (etwa in Form der Koketterie), Überspielen der Regeln statt offener Rebellion. Im Zeichen der Emanzipation protestieren heute viel Frauen gegen diese Geschlechtsrolle. Von einem Protest der Männer gegen die Vorschriften, denen sie folgen sollen, hat man leider noch wenig gehört. Dabei wäre es an der Zeit, daß sie einiges von der Aggressivität verweigern, die man von ihnen etwa im Hinblick auf die Kriegsbereitschaft erwartet. Ein besonderes auffälliges Mißverständnis liegt in dem Glauben, die Frau sei »romantisch«, der Mann »realistisch«. In Wirklichkeit ist es eher umgekehrt: Männer entwickeln Religionen, Ideologien und Utopien, die nur noch wenig Beziehung zur Realität haben, und werden von Frauen deshalb belächelt oder gewarnt; Frauen haben im allgemeinen viel weniger Zugang zur Phantasie, stehen den Notwendigkeiten des Alltags viel näher und täuschen sich nicht über die reale Bedeutung der Gefühle hinweg. Wie weit auch dies eine Folge der Aufgaben ist, die man ihnen in einer langen patriarchalischen Tradition zugewiesen hat, läßt sich kaum sagen.In jeder Gesellschaft begegnen Männer oder Frauen bestimmten Verhaltenserwartungen und Normen (Doppelmoral), die häufig durch angeblich «natürliche» Unterschiede zwischen den Geschlechtern gerechtfertigt werden (Geschlechtsunterschiede). Meist sind die Geschlechtsrollen durch den wirtschaftlich-sozialen Aufbau der Gesellschaft bestimmt, vor allem durch die Arbeitsteilung. Die Notwendigkeit, ein Kind nach der Geburt ausreichend zu stillen, führte etwa in den ursprünglichsten erhaltenen Kulturen (Jäger und Sammler) dazu, daß die Frauen in der Nähe der Lagerplätze pflanzliche Nahrung und Kleintiere sammelten, während die Männer weit umherschweiften und größere Tiere zu erbeuten suchten. Häufig entstehen aus unterschiedlichen Geschlechtsrollen auch Machtunterschiede, die an den Besitzverhältnissen, dem Erbrecht oder dem Wohnort nach der Heirat erkennbar sind. Geschlechtsrollen werden schon sehr früh gelernt (Erziehung) und erscheinen dann als «selbstverständlich». Erst der Vergleich verschiedener Kulturen zeigt, wie groß die Veränderungsmöglichkeiten hier sind. Die Ergebnisse großer kulturvergleichender Untersuchungen zeigen aber doch gewisse Schwerpunkte: Männer jagen überall häufiger als Frauen; ihre Hauptaktivitäten, die selten von Frauen ausgeübt werden, sind ferner der Waffen- und Bootsbau, die Metallarbeit und der Bergbau. Frauen kümmern sich fast überall um die Kinder, den Haushalt, das Weben; sie sind häufig allein für die Feldarbeit und die Essenszubereitung zuständig. In machen Kulturen verrichten die Frauen die meiste körperliche Arbeit; gelegentlich scheinen unsere westlichen Geschlechtsrollen fast umgekehrt: Frauen gelten als tüchtig und leistungsbezogen, Männer als geschwätzig und eitel. Die meisten Unterschiede der Geschlechtsrollen sind über Generationen geschichtlich entstanden und gesellschaftlich festgelegt.

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