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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Gesellschaft

Autor
Autor:
Julia Schneider-Ermer

ein vieldeutiger und vager Begriff, hier stets verstanden als Bezeichnung für eine große Gruppe von Menschen, die in einem noch begrenzten Raum unter etwa ähnlichen Verhältnissen zusammenleben und gemeinsamen Wertvorstellungen unterworfen sind. Sie unterliegt, anders als der Staat, kaum geschriebenen Gesetzen, sondern folgt einer ungeschriebenen Moral. Ihr Sittengesetz beruft sich zwar auf Traditionen, aber es wandelt sich ständig, wenn auch so allmählich, daß die Änderungen erst auffallen, wenn sie sich summiert haben. Gesellschaft und Moral sind wie lebendige Wesen, während die Organisationsform des Staates leicht erstarrt. Man könnte die Gesellschaft mit einem Schalentier vergleichen, das sich eine Weile in seinem Panzer geschützt fühlt, den es aber sprengen muß, wenn er zu eng geworden ist; dann wird der Staat durch eine Revolution zerbrochen, und die Gesellschaft versucht, eine andere Organisation als Hülle zu bilden. Zugleich aber werden Gesellschaften nicht durch Staatsgrenzen beengt. Heute bestehen in allen Industriestaaten Westeuropas und Nordamerikas ganz ähnliche Gesellschaftsformen. Die Industrieproduktion schafft Bedingungen, die auch in den sozialistischen Staaten Osteuropas die Gesellschaft in einer durchaus vergleichbaren Weise beeinflussen. Unabhängig von den ökonomischen Voraussetzungen und den kulturellen Traditionen steht aber jede Gesellschaft vor den gleichen Aufgaben und Problemen. Es geht darum, wer herrscht oder führt, wie man sich in die Arbeit teilt, welchen Rang man den einzelnen Gruppen zumißt, wieviel Gemeinsamkeiten man gegen Sonderinteressen durchsetzen kann, oder wieviel Freiheit man unterschiedlichen Gruppen oder Einzelnen zubilligen muß. Niemals hat es eine wirkliche einheitliche Gesellschaft gegeben. Immer zeichnen sich Klassen oder doch Schichten ab, die sich durch besondere Pflichten, Rechte, Wertvorstellungen und Sitten voneinander unterscheiden. Fast immer gibt es Randgruppen, die zu klein oder zu verstreut sind, um als Schichten zu gelten, und denen man doch ihre Eigenheiten zubilligen muß, weil sie Aufgaben erfüllen, die nur von ihnen gelöst werden können (etwa: Seeleute, Legionäre, Artisten). In manchen Minderheiten bildet sich eine Subkultur, in der die Regeln der jeweiligen Gesellschaft nur insoweit anerkannt werden, als es für die Duldung durch die Mehrheit unumgänglich ist. Die Macht der Gesellschaft geht nicht allein von den Herrschenden und ihren Funktionären aus, zumal deren Ziele ja unter Umständen gegensätzlich sind. Solche Rivalitäten (etwa zwischen Staat und Kirche, Staat und Partei) werden zwar gedämpft durch gewisse gemeinsame Interessen, zum Beispiel gegenüber den Beherrschten, und durch den Bezug auf gemeinsame Traditionen. Aber ihr Konsensus wie das Einverständnis der Geführten mit der Führung gehen letzten Endes darauf zurück, daß der Mensch ohne den Rückhalt einer Gesellschaft auf die Dauer nicht lebensfähig ist. Die Geschichte des »Robinson« ist ein markantes Beispiel dafür, und zwar nicht nur durch seine Gemeinschaft mit »Freitag«, sondern schon von allem Anfang an durch die Geräte, die er vom Schiff gerettet, und durch die erlernte Moral, die er in seine Einsamkeit mitgebracht hatte. Die weitaus meisten Menschen brauchen eine Führung durch die Gesellschaft und ihre Funktionäre. Allein gelassen oder nur aufeinander angewiesen, fühlen sich die Leute aus der Masse richtungslos, ungeschützt und einsam. Freilich sind sie auch nie zu freier Entscheidung in Selbstverantwortung erzogen worden. Die Sehnsucht nach einer Sicherheit in einem Rahmen, den die Gesellschaft festgesetzt hat, streitet sich mit dem Wunsch nach freier Selbstverwirklichung. Ist der Druck der Gesellschaft auf einen Einzelnen oder eine (benachteiligte) Gruppe zu groß, kommt es zu einer Rebellion, sei es in Formen der Isolation, oder als revolutionärer Drang zur gewaltsamen Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, oder als Verbrechen gegen die jeweiligen Gesetze. Eine Gesellschaft ohne jede merkliche Rebellion wäre zum Stillstand verurteilt. Jede Gesellschaft fordert Leistungen oder Verzichte, die für einige so schwer sind, daß sie ihnen in eine Art Krankheit ausweichen. Hierher gehören nicht nur das Fehlverhalten der Kriminellen, sondern auch die Flucht in Trunksucht oder Rauschgift-Abhängigkeit, die Abwehr in Form einer Neurose oder Psychose und die Vielfalt der psychosomatischen Krankheiten, bei denen sich das seelische Leid hinter einem körperlichen Leiden verbirgt. Die Zahl der Menschen, die in einer dieser Arten an den Forderungen unserer gegenwärtigen Gesellschaft erkrankt sind, macht erst bewußt, wie schwer eine individuell befriedigende Anpassung ist.

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