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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Religion

Autor
Autor:
Manuela Bartheim-Rixen

die »Rückbindung« des Menschen an die gesamte Schöpfung und das Geschehen als Schicksal. Mit der Religion versucht der Mensch, das Leben und seine Stellung darin so zu deuten, daß er daraus ein Gefühl der Sicherheit gewinnt. Während die Wissenschaft um nüchterne Erkenntnis bemüht ist, zu der sie nur sehr allmählich und lückenhaft vordringen kann, sodaß sie den Zweifel stets einschließt, geht es der Religion darum, gefühlsmäßige Beziehungen zur Welt herzustellen und alle Fragen durch einen Glauben aufzuheben. Die Welt wird gleichsam vermenschlicht. In den Naturreligionen sah man in allem um sich her Geister (Dämonen) wirksam, zu denen man geradeso in Verbindung treten könnte wie zu den Mitmenschen (Animismus). Man glaubte, sie durch Beschwörung und Opfer den eigenen Wünschen entsprechend beeinflussen zu können (Magie). In Wahrheit änderte man damit nur die eigene seelische Einstellung. Allmählich gewannen die Wesen, auf die man jedes Geschehen zurückführte, immer deutlicher menschliche Gestalt. Im Polytheismus schrieb man den Göttern die gleichen Leidenschaften und Mängel zu, die der Mensch bei sich und seinen Artgenossen kennengelernt hatte. Man glaubte sie in Kämpfe gegeneinander verwickelt, die gleichfalls denen der Menschen entsprachen. Sie litten ebenso wie die Menschen, . waren nicht einmal allmächtig, sondern irgendwie von einem übergeordneten Schicksal abhängig. Der Glaube an ihre Unsterblichkeit spiegelte die Unfähigkeit, sich den eigenen Tod vorzustellen. Anders gesagt: man versetzte die Erfahrungen und Wünsche des menschlichen Lebens in den Himmel und vergrößerte sie so (Projektion). Da auf Erden die Beziehung in der Familie als prägende Erfahrungen so wichtig waren, sah man auch die Götter in Familienkonflikten gebunden. Besonders eng war die Beziehung der Gläubigen zu dem obersten Gott, von dem sie einen Schutz wie vom Vater erwarteten, dessen Strafen wegen Ungehorsam sie aber auch am meisten fürchteten. In Helden-Sagen spiegelte sich dann das Verlangen, gegen diesen Vatergott zu rebellieren, das schon den Totem-Glauben bestimmt hatte. Das Schicksal des Prometheus schien ebenso zu beweisen, daß sich der Mensch um des Fortschritts willen gegen göttliche Beschränkungen auflehnen muß, wie die grausamen Strafen zu demonstrieren, die ihn dafür erwarten. Ein ähnliches Muster zeichnet die biblische Schöpfungsgeschichte, die den Erwerb der Erkenntnis, der eigentlich menschlichen Fähigkeit, als »Erbsünde« darstellt. Die Legende vom »Sündenfall« ist zugleich eine Darstellung des Durchbruches der bewußten (statt rein instinktiven) Sexualität. Sie gehört ja bereits in einen Monotheismus, eine Religion also, die nun alle Macht dem einzigen Vater-Gott zuschrieb, den sie damit auch aus allen sexuellen Beziehungen löste. Seine Alleinherrschaft versinnbildlichte eine Einheitlichkeit allen Geschehens. Die Widersprüche der Wirklichkeit zwangen aber zu der Annahme, daß es eine Gegenkraft gäbe, einen Teufel, den Gott entweder duldete, um seine Geschöpfe auf die Probe zu stellen und zu läutern, oder mit dem er zu ringen hatte. Der Glaube an den einen und einsamen Gott, der so hoch stand, daß er nicht einmal durch Beschwörungen erreichbar war, bot jedoch auf die Dauer nicht die Befriedigung, die man in der religiösen »Rückbindung« suchte. Aus dem Leben, der Lehre und dem Tod des Wanderpredigers Jesus entstand die Vorstellung, Gott habe mit seiner menschlichen Frau einen Sohn gezeugt, der dann freiwillig das Ende eines Verbrechers auf sich nahm, um alle Sünden der Menschen gegen Gott auszulöschen und sie mit dem Vater im Himmel zu versöhnen. Das Bild einer göttlichen Familie war wiederhergestellt. Die Kirche, die Petrus gründete, nahm auch wieder magische Praktiken auf und näherte sich durch die Verehrung der Mutter Jesu und der Heiligen einer Vielgötterei. Erst Luther hat das wieder zurückgenommen und zugleich die sinnlichen Elemente des Kults (Ritual) wesentlich eingeschränkt. Die »protestantischen« oder »evangelischen« Kirchen haben dafür mit einer gewissen Strenge und Kälte bezahlt. Der Pietismus, dem es in erster Linie auf Frömmigkeit und Nächstenliebe ankam, wollte die Gefühlsbeziehungen im Glauben und in der Gemeinde wieder verstärken. Jede Religion, die sich als Kirche organisiert, erwirbt auch materielle Macht, kämpft oder arrangiert sich mit anderen mächtigen Institutionen, und entfernt sich so von ihrer eigentlichen Bedeutung als Vertreterin der gefühlsmäßigen, seelischen Belange. Die Sekten, die sich von ihnen abspalten, versuchen meist, das zu korrigieren. Die meisten Religionen bieten eine Erklärung für die Entstehung der Welt und ihre Veränderungen an. Diesen Anspruch haben sie weitgehend an die Wissenschaft abtreten müssen. Fast alle setzen eine Wertordnung fest, die immer und für alle gelten soll. Auch die religiös begründete Moral hat durch die Veränderungen der Gesellschaft und die wachsende Vielfalt der menschlichen Verhältnisse wie Aufgaben an Verbindlichkeit eingebüßt. Geblieben ist das Angebot an gefühlsmäßiger Sicherheit mit dem Glauben an einen fürsorgenden und liebenden Gott. Als einzige der Hochreligionen kennt der Buddhismus keine Gottheiten, sondern nur einen Kreislauf aus Vergehen und Verdiensten, aus Strafen und Belohnungen. Er soll erst enden, wenn sich der Mensch von seinen Wünschen und damit auch von seinen Illusionen löst, bereit, in das Nirwana, die Ruhe des Nichts einzugehen. Hier ist das Schicksal noch immer an die Bemühung des Menschen gebunden. Im Islam gilt das Schicksal, das »Kismet«, als von vornherein vorbestimmt. Spinoza hat Gott als überpersönliches Prinzip aufgefaßt, das überall gegenwärtig ist, den menschlichen Bemühungen unerreichbar. Die Erkenntnis einer Macht, die über uns steht, die wir noch nicht sehen, nicht begreifen und nicht beeinflussen können, setzt uns aber wieder dem Gefühl der Unsicherheit aus, das so schwer zu ertragen ist. Es ist die Sehnsucht nach Geborgenheit, nach Liebe, die zur Religion führt. Diese Sehnsucht ist so tief verankert, daß die Einsicht in den Wunschcharakter des Glaubens noch keine Ablösung von der Religion ist. Das Bewußtsein des Agnostikers, daß man über »die letzten Dinge« nichts wissen kann, und daß alle »Offenbarungen« nur menschliche Deutungen sind, schließt nicht immer die unbewußte Bindung an religiöse Lehren aus, die ihm in der Kindheit durch Erziehung und Beispiel vermittelt worden sind und einem wesentlichen Bedürfnis entsprechen.

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