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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Folterfolgen

Autor
Autor:
Julia Schneider-Ermer

akute Symptome und Spätfolgen auf der körperlichen, psychischen und seelischen Ebene als Folge von Folter. 1) akute somatische Störungen: Da die Frühsymptome während oder nach der Haft auftreten und die medizinische Abklärung und Behandlung oft heimlich durchgeführt werden müssen, ist deren zahlenmäßige Erhebung schwierig. Die somatischen Frühsymptome entsprechen den angewandten Foltermethoden: Hautläsionen, Verbrennungen, Verätzungen, Frakturen, Luxationen, Hämatome, Verletzungen der inneren Organe (stumpfe Traumata, urogenitale und anale Verletzungen), Harnwegsinfekte, Läsionen des peripheren und zentralen Nervensystems, außerdem die Folgen ungenügender und einseitiger Ernährung, unzureichender Hygiene sowie unbehandelter Krankheiten: Gewichtsverlust, Magenschmerzen, Bronchitiden, Pneumonien (auch Tuberkulose) und Zahnfleischentzündungen. 2) akute psychische Störungen: Auf das überwältigende Erlebnis der Folter können psychische Frühsymptome im Sinne einer akuten Belastungsreaktion auftreten (F43.0 nach ICD 10). Diese kurzdauernde Störung (Tage) beginnt typischerweise mit einer "Betäubung" (Bewußtseinseinengung, Desorientiertheit). Oft werden dissoziative Zustände, Überaktivität und Fluchtreaktionen (oder Rückzug), Ärger und Verzweiflung, vegetative Zeichen panischer Angst sowie nachfolgend eine teilweise oder vollständige Amnesie für die Episode beobachtet. 3) somatische Spätfolgen: An erster Stelle stehen Beschwerden des Bewegungsapparates: chronische Rückenschmerzen, Schmerzen des Schultergürtels (nach Aufhängen), der Beine und der Füße sowie diffuse Schmerzen bei Muskelkontrakturen und Insertionstendinosen. Das langdauernde Schlagen der Fußsohlen (Falakka) führt zu charakteristischen Gangstörungen durch die Zerstörung der Weichteil-Architektur (fehlende Elastizität), manchmal mit Ausriß der Plantaraponeurose. Die Sprunggelenke sind oft hypermobil und instabil. Eine Unterscheidung der oft auftretenden Kopfschmerzen nach organischer Ursache (nach Commotio, Hirnverletzungen) und psychogenen Schmerzen ist schwierig. Läsionen peripherer Nerven können durch Verletzung oder Kompression sowie nach Elektrofolter und Falakka auftreten. Bestimmte Foltertechniken verursachen ein Schleudertrauma der Halswirbelsäule. Hautläsionen (Hämatome, Narben nach Verbrennung oder Verätzung), Trommelfellperforationen und Hörschäden (verursacht durch Knalltrauma oder Schläge auf die Ohren) sowie Zahnfrakturen oder -verluste sind typische Mißhandlungsfolgen. Urogenitale und anale Verletzungen können zu langdauernden Beschwerden f’ühren. Magen und Duodenalulzera sind häufig. Die häufigsten gynäkologischen Symptome sind Zyklusunregelmäßigkeiten, gefolgt von Entzündungen und evtl. Aborten. Bei Männern können chronische genitale Infekte, evtl. mit Fertilitätsstörungen, auftreten. Sexuelle Funktionsstörungen sind bei beiden Geschlechtem häufig. 4) psychosoziale Spätsymptome: Die psychosozialen Symptome werden sowohl durch die erlebte Extremtraumatisierung als auch durch die aktuellen Belastungen im Exil ausgelöst und unterhalten. Im Einzelfall können prämorbide Störungen dazukommen. Die Traumaverarbeitung folgt normalerweise einem dynamischen Grundmuster .

5) Auswirkungen auf die Familien: Folterfahrungen können das Familienleben in erheblichem Maße beeinträchtigen. Unter dem Mißtrauen, der verminderten Belastbarkeit sowie der sozialen Entfremdung haben auch die Angehörigen zu leiden (Kinder gefolterter Eltern).

Literatur

Frey, C., Kläui, H. & Vogel, H. (1998). Diagnostik und Therapie bei Folteropfern. In G.-H. Burchard (Hrsg.), Erkrankungen bei Immigranten: Diagnostik, Therapie, Begutachtung (S. 325-337). Stuttgart: G. Fischer.

Psychosoziale Spätsymptome von Folter.


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