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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

System

Autor
Autor:
Anneliese Widmann-Kramer

sehr unterschiedlich gebrauchter abstrakter Begriff zur Kennzeichnung einer Entität, die strukturiert und mit Binnengliederung von einer ”Umgebung” abgrenzbar ist. Wesentlich zu unterscheiden ist zwischen einem statischen oder statisch-relationalen System, das als eine Menge von Elementen (oder Objekten) und einer Menge zwischen diesen Elementen bestehenden Relationen definiert wird, und einem dynamischen System, das wesentlich durch seine dynamischen Struktureigenschaften bestimmt ist. Ein statisches System wäre z.B. ein Kerzenstummel, dessen Kerzenmoleküle (Elemente) in bestimmter räumlicher Anordnung (Relationen) zueinander stehen und damit die Form dieses Stummels ausmachen. Im Gegensatz dazu ist die Kerzenflamme als dynamisches System zu sehen, bei dem die einzelnen, zur Flamme jeweils beitragenden Moleküle, nur für einen kurzen Moment am Prozeß teilnehmen. Was hier hingegen phänomenal stabil bleibt (sonst könnte man gar nicht mit einem Begriff wie ”Flamme” darauf referieren), ist die Struktur dieses Prozesses. Ebenso ist z.B. mit Familie die Struktur (”Regeln”) der Interaktionen gemeint und nicht die biologischen Entitäten, mit Persönlichkeit die Struktur der Verhaltensweisen (bzw. die Struktur des Prozesses der Wahrnehmungen unter moderierender Beteiligung von Kognitions-Emotionsprozessen zu Verhalten verarbeitet; Emotion, Kognition).

Es ist unmittelbar einsichtig, daß Interventionen in statischen Systemen anderen Regeln gehorchen als in dynamischen Systemen: So kann man eine Kerze verbiegen, umformen, und dort, wo man einwirkt, verändert sich in der Regel am ehesten etwas (lokale Kausalität); wobei die Veränderung grundsätzlich erklärt werden muß, während Stabilität selbstverständlich zu sein scheint. Ein dynamisches System, wie die Kerzenflamme, reagiert hingegen ganzheitlich auf Interventionen (z.B. schwaches Blasen), indem ein Ausgleich aller Kräfte herzustellen versucht wird und faktisch überall system-spezifische Veränderungen entstehen (nicht lokale Kausalität). Ein dynamisches System kann daher auch nicht zu einer beliebigen Form gezwungen werden. Zudem reagiert es in Abhängigkeit von seiner bisherigen Geschichte unterschiedlich (Irreversibilität der Entwicklung). Letztlich bedarf hier Stabilität gleichermaßen einer Erklärung wie Veränderung.

Die Erforschung dynamischer Systeme ist in den letzten Jahrzehnten stark in den Mittelpunkt eines interdisziplinären Interesses gerückt; die Ergebnisse haben Eingang in unterschiedliche System-Theorien gefunden, erstaunliche Phänomene beschreibbar gemacht und weitere Forschungsbereiche wie Selbstorganisation, Emergenz oder Chaosforschung initiiert. Innerhalb der Psychologie war die Gestaltpsychologie bereits Anfang dieses Jahrhunderts eine sehr elaborierte System-Theorie, von der wesentliche Aspekte auch in die Humanistische Psychologie eingeflossen sind. Die modernen naturwissenschaftlich-interdisziplinären Befunde aus jüngerer Zeit sind besonders im Rahmen der Systemischen Therapie aufgegriffen, diskutiert und in praxisgerechtes Handeln transformiert worden, obwohl diese Therapierichtung mit ihrem Kern, der Familientherapie (Familie, Psychotherapie), sich zunächst weniger an System-Theorien, sondern an einer reichhaltigen Praxeologie orientierte.

Literatur

Kriz, J. (1999). Systemtheorie für Psychotherapeuten, Psychologen und Mediziner. Wien: Facultas-UTB.


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