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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Psychotherapie

Autor
Autor:
Irene Roubicek-Solms

die Behandlung seelischer und psychosomatischer Krankheiten mit seelischen Mitteln. Die Medizin überhaupt begann als Psychotherapie. Der Priester als Medizinmann, der Wunderheiler und noch der Scharlatan erzielen ihre Erfolge, indem sie bei den Kranken Glauben erwecken, wie ein Wunderort gleich Lourdes Glaubenskräfte hochtreibt. Die mittelalterliche Dreckapotheke hat mit ihren ekelerregenden Mitteln seelische Regungen ausgelöst. Die Beichte, das Opfer und andere Rituale einer Religion sind ebenso wie die Teufelsaustreibung bei Besessenen (Exorzismus) »Behandlungen« eines Leidens, wie es aus Liebesmangel, Schuldgefühl und Strafbedürfnis entsteht. Die Wirkung eines seelischen Einflusses wird ganz deutlich schon, wenn Hautwucherungen durch »Besprechen« tatsächlich verschwinden. Im Grunde geht jede Form von Psychotherapie auf eine Übertragung zurück: der Kranke »wirft« seine Liebe und seinen Glauben auf den Heiler und auf alles, was (etwa als Medikament) von ihm kommt. Am weitesten geht diese vertrauensvolle Auslieferung an den Heiler bei der Hypnose. Beinahe ebenso stark ist die Wirkung der Suggestion im Wachzustand, wie sie etwa Franz Anton Mesmer (t 1815) ausgeübt hat, der sie freilich noch einem »tierischen Magnetismus« zuschrieb. Die Übertragung allein kann jedoch die Krankheit nur überdecken, und dies auch nur solange, wie sie lebendig bleibt. Der Kranke ist entweder dauernd an seinen Arzt gebunden, kann sein Leben nicht mehr ohne ihn meistern, oder aber er verfällt nach einer ungewollten Ablösung wieder in die ursprüngliche bzw. eine stellvertretende Krankheit. In der psychoanalytischen Kur wird die Übertragung nur als Mittel eingesetzt, um den Kranken unter Führung des Arztes zur bewußten Erkenntnis der zunächst unbewußten Konflikte zu motivieren. Auf diese Weise kann erreicht werden, daß die Entscheidung, der der Patient in die Krankheit ausgewichen ist, bewußt und realitätsgerecht nachgeholt wird. In der letzten Phase der Behandlung muß die Übertragung abgebaut werden, sodaß sich der Patient am Ende völlig vom Arzt lösen und ein selbständiges Leben führen kann. Einen anderen Weg geht die Therapie des Behaviorismus. Hier wird nur das abwegige Verhalten gesehen, und es werden Methoden benutzt, um es zu ändern. Der Patient wird durch Lernen und Üben dazu gebracht, sich so zu verhalten, wie es seine Umwelt von ihm erwartet. Dazu tragen Rollenspiele mit Partnern oder in einer Gruppe bei. Anders ausgedrückt: der Patient wird an die Normen der Gemeinschaft gebunden und dafür durch deren Anerkennung belohnt. Sehr viele Psychotherapeuten benutzen eine »aufdeckende« Methode wie die Tiefenpsychologie und eine »zudeckende« Methode wie Hypnose und Verhaltenstherapie nebeneinander oder setzen auch Psychophar maka ein. Je tiefer eine Therapie bei den Ursachen der Krankheit einsetzt, desto gründlicher kann sie wirken, aber desto schwieriger und langwieriger ist sie auch. Angesichts der steigenden Verbreitung seelischer Leiden und des Mangels an ausgebildeten Psychotherapeuten gewinnen die Methoden, die einen schnellen Erfolg versprechen, immer größere Bedeutung, selbst wenn sie meist nur die Symptome beseitigen können und an deren Ursachen nichts ändern. Die Popularität der Verhaltens und Gruppentherapie hängt vielleicht auch damit zusammen, daß sich diese Methoden zum Beispiel im Fernsehen sehr viel besser zeigen lassen als die der Psychoanalyse. Zudem ist die Tiefenpsychologie am Einzelnen orientiert, und Methoden, die auf die Gemeinschaft zielen, mögen unserer Zeit und ihrem Geist eher entsprechen. Immerhin wird auf diese Weise dazu beigetragen, daß immer mehr Menschen die Bedeutung seelischer Krankheiten verstehen. Sie sind nicht weniger ernst zu nehmen und bedürfen nicht weniger der Behandlung als andere Krankheiten auch. Seelische Krankheiten sind sowenig ein Makel wie eine Grippe oder eine Arthritis. Besonders schwer wiegen sie oft bei Kindern und Jugendlichen. Die Störungen während der Entwicklung sind leichter zu beheben als die Folgen, die sie im späteren Leben haben, wenn ein schwerer seelischer Konflikt unbeachtet geblieben ist. In jedem Fall eines ernsten seelischen Leidens sollten sich die Betroffenen oder ihre Angehörigen fachkundig beraten lassen, ob und welche Psychotherapie angemessen ist. Auch die Krankenkassen wissen heute, daß sie seelisch Leidenden geradeso beistehen müssen wie allen anderen Kranken.Behandlung der Seele»; Sammelbegriff für eine Vielzahl psychologischer Methoden, die dazu dienen, Störungen des Erlebens und Verhaltens zu beheben. Eine psychotherapeutische Behandlung befaßt sich ausschließlich mit psychischen Symptomen, kann aber durchaus auch auf körperliche Leiden (Psychosomatik) angewendet werden, wobei man davon ausgeht, daß diese seelisch bedingt sind. Sie muß von der körperlichen Behandlung psychischer Störungen unterschieden werden, wie der Behandlung mit Psychopharmaka oder mit elektrisch erzeugten Krämpfen (Elektroschock). Die Psychotherapie hat eine lange Vergangenheit und eine kurze Geschichte als umgrenzte, durchdachte Wissenschaft. Sie gehörte zu den wichtigsten Mitteln der urtümlichen Medizinmänner oder Schamanen, die als Priesterärzte der schriftlosen Gesellschaften eine wichtige Rolle in den frühen Kulturen spielten. Damals wurde die Suggestion angewandt, aber nicht wissenschaftlich untersucht. Das geschah erst im vergangenen Jahrhundert. Doch konnten Suggestion und Hypnose, die frühesten Mittel der wissenschaftlichen Psychotherapie, nicht den Anspruch erfüllen, den man an eine umfassende Erklärung seelischer Erkrankungen stellen muß. Man verbot den scheinbar sinnlosen Symptomen einfach ihr Fortbestehen, ohne ihre Ursachen aufzuklären. Der Erfolg war dementsprechend auch oft unbefriedigend. Eine erste umfassende Theorie seelischer Erkrankung und Heilung bot erst die Psychoanalyse; sie und ihre verschiedenen Abänderungen (Individualpsychologie, Gruppentherapie, kollektives Unbewußtes, Libido, Neurose) ist bis heute die einflußreichste Erklärung der Vorgänge bei der Entstehung und Heilung seelischer Störungen geblieben. Es gibt viele verschiedene Formen der Psychotherapie. Wir schildern ganz kurz einige der wichtigsten:

1. Psychoanalyse (Standardmethode). Der Patient liegt auf einer Couch, der Therapeut sitzt hinter ihm. Es sollen mindestens drei Stunden pro Woche gearbeitet werden. Der Patient soll «frei assoziieren» (Assoziation), das heißt ohne Kontrolle alles sagen, was ihm einfällt. Der Therapeut beschränkt seine Aktivität auf Deutungen und ihre Vorbereitung (meistens durch klärende Fragen). Dieses Vorgehen erlaubt eine weitgehend vorurteilsfreie seelische «Grundlagenforschung» und ist für Neurosen mit noch guter Wirklichkeitsanpassung der gesunden Persönlichkeitsanteile geeignet.

2. Analytische Psychotherapie. Der Patient liegt oder sitzt; die Häufigkeit der Stunden ist geringer, der Therapeut ist etwas aktiver, er versucht, den Patienten möglichst gezielt an wichtige h Einsichten heranzuführen, wartet also nicht ab, welche Themen spontan auftreten. Es gibt auch Kurzverfahren in dieser Technik. Sie werden «Fokaltherapie» genannt, weil sich der Therapeut auf einen einzigen grundlegenden -+ Konflikt (Fokus = Herd) bechränkt. Gesprächspsychotherapie, klienten-entrierte Therapie. Hier verzichtet er Therapeut auf Deutungen und verebt nur, den Gefühlszustand des ienten in einer von Gefühlswärme nd Echtheit bestimmten Atmosphäre widerzuspiegeln (Nicht-di-rektive Psychotherapie). Weitere Formen der Psychotherapie sind Gruppentherapie, Gestalttherapie, Transaktionsanalyse, Primärtherapie, Verhaltenstherapie, autogenes Training, Hypnose. Zwischen den verschiedenen Verfahren und ihren Vertretern besteht hinsichtlich wichtiger Punkte (Ursachen der Neurosen und Psychosen, Erfolgsaussichten der Behandlung, Ziele, die angestrebt werden sollen) keine Übereinkunft. In den von der Psychoanalyse herkommenden Methoden wird eher eine Änderung der gesamten Persönlichkeit angestrebt, während in der Verhaltenstherapie die Veränderung einzelner Symptome als Ziel gilt. Die Diskussionen gehen nicht selten von unterschiedlichen Werten und Normen aus. Auch die Erwartungen der Patienten an die Psychotherapie sind sehr unterschiedlich und oft an dem Modell einer Arzt-Patient-Beziehung ausgerichtet, in der ein passiv bleibender Kranker von einem aktiven Arzt behandelt wird. Doch setzt eine erfolgreiche Psychotherapie immer die Bereitschaft des Patienten voraus, an sich zu arbeiten. Therapeut und Patient müssen die Gefahr erkennen, daß sich in ihrer Beziehung die Situation eines manipulierten Kindes und eines mächtigen Elternteils wiederholt (wobei der Patient seinerseits auch den Therapeuten manipulieren kann, sobald sich dieser auf eine solche Beziehungsform einläßt).

Psychotherapie (griech.: Seelenheilkunst) im weitesten Sinne gehört zum Menschsein schlechthin; denn hilfreiche soziale Beziehungen und Handlungen der unterschiedlichsten Art, verbunden mit einer Fülle an Konzepten von menschlichem Leid, Krankheit und Heilung, deren Einbettung in Vorstellungen von Entwicklung (einschließlich vor der Geburt und nach dem Tod) und Sinnentwürfen, waren immer schon Bestandteil menschlicher Daseinsgeschichte. Im engeren Sinne hat sich Psychotherapie als eine professionaliserte, abgegrenzte Tätigkeit erst mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts etabliert, wobei viele grundlegende Ideen und Sichtweisen bereits im 19. Jahrhundert entwickelt wurden. In Deutschland wurde aber erst 1999 (in Österreich 1991) mit einem Psychotherapie-Gesetz eine hinreichend klare Grundlage für die Psychotherapie-Profession geschaffen, in der die berufspolitisch motivierte, anachronistische Bindung der Psychotherapie an die Medizin überwunden wurde (Psychotherapeutengesetz).

Trotz der auch heute noch großen Vielfalt an menschlichen Erlebens- und Handlungsweisen, an Sinn- und Wert-Vorstellungen, welche die Grundfragen von Gesundheit, Krankheit und damit auch von Psychotherapie im Kern betreffen, hat sich im Rahmen der Profession in den letzten Jahrzehnten eine zunehmende Konvergenz hinsichtlich des Gegenstandes “Psychotherapie” herausgebildet. Bereits vor drei Jahrzehnten tauchten in amerikanischen, etwas später auch in deutschsprachigen Lehrbüchern Definitionen auf, die danach oft zustimmend zitiert wurden und folgende wesentliche Aspekte von “Psychotherapie” betonen:

a) Es geht um Behandlung mit psychologischen Mitteln (letztlich über Kommunikation) - womit eine klare Abgrenzung gegenüber typischen medizinischen Mitteln wie dem Einsatz von Medikamenten, Apparaten und operativen Techniken vorgenommen wird.

b) Betont wird dabei die Professionalität: Es geht um bewußte und geplante Vorgehensweisen, die sowohl lehr- und lernbar sein als auch auf Theorien des normalen und pathologischen Verhaltens basieren sollen; zufällige Spontan-Heilungen, hilfreiche Ratschläge von Nachbarn, heilende Zuwendung von Freunden, Vorgehensweisen “begnadeter” (aber unausgebildeter und nicht theoretisch begründete) Heiler werden in ihrer möglichen Wirkung nicht geleugnet, gelten aber nicht als Psychotherapeuten.

c) Als wichtig wird auch der Konsens erachtet (möglichst zwischen Patient, Therapeut und Bezugsgruppe); dieser soll sowohl hinsichtlich der Behandlungsbedürftigkeit als auch über die Therapieziele (Symptomminimalisierung und/oder Strukturänderung der Persönlichkeit) herbeigeführt werden.

d) Letztlich wird die Bedeutung einer tragfähigen emotionalen Bindung zwischen Patient und Therapeut hervorgehoben (die z.B. im Rahmen der Verhaltenstherapie lange unterschätzt wurde).

Trotz dieser weitgehend geteilten Teilkomponenten von Psychotherapie sind die Vorstellungen über deren Ziele, über die Methoden (einschließlich deren theoretischer Fundierungen und Anbindungen an Menschenbilder) sowie Fragen der Behandlungsbedürftigkeit (und -notwendigkeit im Sinne einer Kassenfinanzierung) weiterhin überaus strittig und unterliegen auch gesellschaftlichen Wandlungen: So wurde in der BRD erst 1968 durch ein Urteil des Bundessozialgerichts Alkohol- und Drogenabhängigkeit (Alkoholismus, Sucht) als “Krankheit” definiert – was nicht nur den Anspruch auf Krankenbehandlung und Rentenansprüche begründete, sondern auch die Vorstellungen veränderte. Andersherum wurde Ende der 70er Jahre durch das DSM III – ein international verwendetes diagnostisches Klassifikationssystem - die noch zuvor im DSM II geführte Homosexualität aus dem Katalog “sexueller Störungen” gestrichen – mit einem Schlage waren somit Millionen Menschen “störungsfrei”, “gesund” und nicht mehr behandlungsbedürftig (und auch nicht behandlungswürdig, im Sinne einer Kassenfinanzierung). Dies belegt die enge Verzahnung von Psychotherapie mit gesellschaftlichen Definitions-Prozessen.



Wurzeln und Entwicklung

Historisch gesehen wurde zu Beginn dieses Jahrhunderts zunächst die Psychoanalyse aufgrund der bahnbrechenden Arbeiten von Sigmund Freud entwickelt, die natürlich ihrerseits auf Strömungen und Entwicklungen aus dem 19. Jahrhundert (und teilweise davor) zurückgreift; wobei neben Freuds anfänglichem Kooperationspartner J. Breuer besonders J.M. Charcot, P. Janet, T. Meynert, A.A. Liebeault, H.M. Bernheim, W. Fließ und E. Bleuler durch reale Kontakte wesentlich Einfluß hatten, während geistige Wegbereiter vor allem J. Braid, F.A. Mesmer und H. Münsterberg, aber auch die eher der Philosophie zugerechneten A. Schopenhauer und F. Nietzsche. Wesentliche Konzepte der Psychoanalyse zwischen 1900 und 1920 waren

– die Unterscheidung zwischen Bewußtem, Vorbewußtem (d.h. gerade jetzt nicht bewußt, aber bewußtseinsfähig) und Unbewußtem (aus dem Bewußtsein “verdrängt”),

– die Betonung energetischer Grundlagen und deren typischer frühkindlicher Entwicklungsphasen für das (spätere) psychische Geschehen sowie

– die Herausarbeitung einer spezifischen Behandlungsmethode mit der Etablierung einer Übertragungsbeziehung als wichtigstem Behandlungsmoment und der Widerstandsanalyse als zentraler Behandlungsmethode.

Besonders über diese Betonung der energetischen Grundlagen in Form eines Sexual-Triebes (der “Libido”) kam es früh zum Zerwürfnis in der Psychoanalytischen Gesellschaft: 1911 trat Alfred Adler aus und wurde zum Begründer der Individualpsychologie – eine Richtung, die mehr die sozialen Komponenten berücksichtigt; 1913 folgte der Bruch mit C.G. Jung, dessen Analytische Psychologie das Konzept des Unbewußten um “kollektive” Anteile erweiterte und kreativen, interkulturellen und transpersonalen Aspekte einen großen Stellenwert verlieh. Als Freud dann ab 1920 selbst eine Abkehr vom energetischen Libido-Konzept hin zum Strukturkonzept der Persönlichkeit vollzog, war dies Ursache für den Beginn einer weiteren bedeutenden Richtung: Mit Wilhelm Reichs Vegetotherapie, die im Gegensatz zu Freud den Fokus auf energetische Prozesse beibehielt, entstand die Grundlage heutiger körperorientierter Verfahren (wie z.B. die Bioenergetik des Reich-Schülers A. Lowen).

Neben diesen und weiteren aus der Psychoanalyse herausdifferenzierten Teilrichtungen, die insgesamt als Tiefenpsychologische Psychotherapie zusammengefaßt werden, haben sich nach dem 2. Weltkrieg zunehmend drei weitere Richtungs-Cluster gebildet:

– Verhaltenstherapie, die wesentlich auf den Erkenntnissen der empirischen Psychologie über Lernvorgänge beruht und daher neben dem Aspekt des Verhaltens in den letzten Jahrzehnten zunehmend auch die psychologischen Forschungsergebnisse über kognitive und emotionale Vorgänge berücksichtigt;

– Humanistische Psychotherapie, die besonders Prozesse der Selbstregulation auf körperlicher, psychischer und interaktionaler Ebene ins Zentrum stellt, und daher neben “Wachstum”, “Entfaltung” und “Autonomie” auch die Therapeut-Klient-Beziehung (oft mit ihrer “Begegnungs”-Qualität) sowie die Bedürfnisse des Menschen nach Sinn und Verständnis, nach stimmiger Vergangenheit und möglichen Zukunftsentwürfen, für wesentlich hält;

– Familien- bzw. Systemische Therapie, in der besonders interaktionelle Muster, kommunikative Wirklichkeiten, zirkuläre Prozesse und sprachliche Bedeutungszuschreibungen sowie funktionale Aspekte von Symptomen in diesem Interaktionsgeflecht berücksichtigt werden.

Selbstverständlich sind die genannten Aspekte der vier Richtungen (besser: Richtungs-Cluster) nur als spezifische Schwerpunktsetzungen zu verstehen – werden somit auch in den jeweils anderen Richtungen mehr oder minder berücksichtigt. Ferner lassen sich keineswegs alle Psychotherapie-Schulen klar einem dieser Cluster zuordnen. Gleichwohl stellen sie eine Orientierungshilfe in dem übergroßen Spektrum der Schulen, Ansätze und Konzepte dar, weshalb die folgende Charakterisierung diese Einteilung als Gliederung verwendet.



Tiefenpsychologische Ansätze

Die klassische Psychoanalyse nach Freud, mit hochfrequenter und langdauernder Behandlung, bei welcher der Patient auf der Couch liegt, alle Einfälle äußert (“freie Assoziation”) und diese vom hinter ihm sitzenden Therapeuten gedeutet werden, wird heute zunehmend seltener. Hingegen gewinnen tiefenpsychologische Ansätze zunehmende Bedeutung, die kürzere Dauer und stärkere Fokussierung auf störungsspezifische und akute Aspekte aufweisen, auch wenn sie auf Theorie und Techniken aus der Psychoanalyse basieren. Neurotische Entwicklungen (Neurose) werden dabei als Konflikte zwischen Instanzen des Strukturmodells der Persönlichkeit (Freud ab 1920) gesehen – zwischen dem triebhaften Es, dem Gewissen und kulturelle Normen repräsentierenden Über-Ich und dem Ich, das zwischen beiden realitätsangepaßt vermitteln muß. Schwere Verletzungen der psychischen Integrität werden ins Unbewußte verdrängt und setzen der Aufdeckung durch den Analytiker Widerstand entgegen. Da sich der Therapeut mit dem Ich verbünden muß, war nach Freud zunächst Therapie mit psychotischen (Ich-schwachen) Patienten kontraindiziert; in den letzten Jahrzehnten wurden aber auch für diese Patienten Behandlungskonzepte auf der Basis tiefenpsychologischer Ansätze entwickelt.



Verhaltenstherapie

Kernthese ist, daß als pathologisch beurteiltes wie auch “normales” Verhalten wesentlich auf Lernvorgängen beruht, die seit jeher zentraler Gegenstand psychologischer Forschung sind. In den 50er Jahren wurden daher bereits Jahrzehnte zuvor in der Experimentellen Psychologie entwickelte Konzepte der klassischen und der operanten Konditionierung in Behandlungskonzepte umgesetzt: Erstere ermöglicht über Gegenkonditionierung oder Desensibilisierung, die gelernte Verbindung von natürlichem mit konditioniertem Reiz z.B. bei Angstreaktionen (oder anderen, vorzugsweise emotionellen, physiologischen Reaktionen) zu verändern, da z.B. Entspannung und Angst inkompatibel sind. In diesem Zusammenhang hat die Verhaltenstherapie auch wirksame und gut lernbare Entspannungsverfahren entwickelt. Operante Verfahren bauen über Verstärker neue erwünschte Verhaltensweisen auf (auch im Rahmen des Trainings sozialer Kompetenz) oder versuchen über Reizkontrolle die Verstärker für unerwünschte Verhaltensweisen auszuschalten. Neben einer Erweiterung um das Modellernen wurden zunehmend auch Komponenten wie Affekte, Vorstellungen und Denkvorgänge in die Verhaltenstherapie einbezogen (sog. “kognitive Wende”). In jedem Fall ist eine sorgfältige Analyse der funktionalen Bedingungen des Verhaltens sowie der erwünschten und realistisch zu erreichenden Ziele wichtiger Bestandteil der Verhaltenstherapie. Durch diese Zielorientierung ist eine Evaluation des Erfolgs besonders leicht und gängige Praxis – weshalb diese Therapierichtung für akademische Forschung (und Karrieremuster, z.B. wegen klarer Designs und guter Publizierbarkeit) hervorragend geeignet ist.



Humanistische Therapieansätze

Neben den tiefenpsychologischen und verhaltenstherapeutischen Ansätzen etablierten sich Humanistische Therapieansätze gezielt als “dritte Kraft”. Wesentliches Motiv war, auf der Basis eines Menschenbildes zu arbeiten, das Patienten weniger durch bio-physiologische Triebe noch durch Reiz-Reaktions-Ketten bestimmt sieht, sondern eher als ganzheitliche Wesen wahrnimmt, die durch Ziel- und Sinnorientierung, Entfaltung eines Selbst, Autonomie und soziale Interdependenz, schöpferisch-kreative Potentiale und vielfach auch transzendente Sehnsüchte ausgezeichnet sind. Zentrale Ansätze sind C. Rogers Klientzentrierte Psychotherapie (Gesprächspsychotherapie) sowie die auf F. und L. Perls sowie andere zurückgehende Gestalttherapie. Aber auch Psychodrama (Begründer: Moreno), Daseinsanalyse, Existenzanalyse und Logotherapie (V. Frankl) lassen sich ebensogut dieser Richtung zuordnen, wie z.B. der familientherapeutische Ansatz V. Satirs. Aus heutiger Sicht haben inzwischen einerseits die anderen Therapierichtungen von diesem Ansatz profitiert (z.B. die Anerkennung der großen Bedeutung der Patient-Therapeut-Beziehung - auch jenseits des Aspekts der Übertragung), andererseits haben sich die Humanistischen Therapieansätze für tiefenpsychologische Entwicklungsmodelle und lerntheoretische Erklärungen und Techniken geöffnet.



Familien- und Systemtherapien

Diese vierte große Klasse hat sich historisch durch ein besonderes Setting herauskristallisiert: In den 50er Jahren begannen Therapeuten an verschiedenen Orten in den USA zunehmend die Familien von Patienten in die Behandlung mit einzubeziehen. Schwerpunkt lag zunächst bei jugendlichen psychotischen Patienten (die von den anderen Therapieansätzen zu jener Zeit wenig profitieren konnten). Hier zeigte sich, daß bei diesen (und anderen Patienten) die Symptome in besonderem Maße mit den familiären Interaktionsstrukturen verbunden waren. Zunächst formulierte “ursächliche” Zusammenhänge – z.B. eine “schizophrenogene” Mutter – wurden aber inzwischen fallen gelassen, da sie weder theoretisch haltbar noch pragmatisch sinnvoll sind (es läßt sich schwer jemand für die Zusammenarbeit gewinnen, dem man die “Schuld” zuschreibt). Durch Konzentrierung auf unterschiedliche Aspekte und Vorgehensweisen entstanden zunächst die zentralen Richtungen der Familientherapie

a) psychoanalytische Familientherapie, bei der die Konzepte der Psychoanalyse und Tiefenpsychologie auf den Umgang mit Familien erweitert wurden,

b) strukturelle Familientherapie, die sich an normativen Konzepten einer gut funktionierenden Familie orientiert, z.B. klare Grenzen zwischen Eltern und Kindern, möglichst keine “Koalitionen” zwischen Eltern-Kind gegen andere,

c) entwicklungsorientierte Familientherapie, die entsprechend den Vorstellungen humanistischer Psychotherapie Wachstum, Kreativität und Flexibilität der Einzelnen und des Miteinanders ins Zentrum stellt und dabei auch individuellen Aspekte, wie dem Selbstwert der Beteiligten, besondere Aufmerksamkeit widmet,

d) strategische Familientherapie, die besonders die Veränderung der Interaktionsregeln beachtet und mit spezifischen Techniken bekannt wurde wie paradoxe Intervention (= Symptomverschreibung), zirkuläre Fragen (wo jeder über seine Wahrnehmung von Beziehungsaspekten zwischen anderen befragt wird), sowie dem typischen Setting von Therapeuten-Teams, die teils vor, teils hinter einer Spiegelwand intervenieren.

Neben der Entwicklung einer blühenden Praxeologie mit einem großen Spektrum an Interventionstechniken wurde zunehmend deutlicher, daß vor allem die (in Sprache faßbaren) Vorstellungen und Geschichten (sog. “Narrationen”) der Personen das interaktive Regelwerk bestimmen. Gemeinsame und unterschiedliche Vorstellungen darüber, was “krank”, “gesund”, “richtig”, “falsch”, “gut” oder “böse” ist, was die Symptome und Handlungen “bedeuten”, welche Leitideen von “Veränderung” und “Heilung”, von “Scheitern” oder “Schuld” existieren, sind wesentlich. Das Familien-System muß daher nicht unbedingt durch die realen Personen im Therapieraum verkörpert werden, sondern wird durch diese Narrationen repräsentiert – weshalb auch “Familientherapie” ggf. nur mit einem Familienmitglied möglich ist. Das Setting “Familie” wurde somit zunehmend durch die systemische Betrachtungsweise in der Bedeutsamkeit abgelöst (und analog zum “Familiensystem” lassen sich Probleme mit dem System Arbeitsplatz, Verein etc. angehen).



Ausblick

In den letzten Jahren sind über die einzelnen Ansätze hinweg verstärkt Integrationsbemühungen erkennbar, die sich einerseits in der Erforschung und Beschreibung gemeinsamer Wirkfaktoren, andererseits in der Entwicklung einer allgemeinen Psychotherapie-Theorie äußern. Ob daraus auch ein vereinheitlichtes Modell therapeutischer Intervention ableitbar wird, ist derzeit fraglich, zumal das Bemühen um störungsspezifische Differenzierungen der Psychotherapie als mindestens ebenso wichtig erachtet wird.

Literatur

Corsini, R.J. (Hrsg). (1983). Handbuch der Psychotherapie. Weinheim: Beltz.

Grawe, K. et al. (1994). Psychotherapie im Wandel: Von der Konfession zur Profession. Göttingen: Hogrefe.

Kriz, J. (1998). Grundkonzepte der Psychotherapie (5. Aufl.). Weinheim: PVU.

Petzold, H. (Hrsg). (1984). Wege zum Menschen (2 Bde). Paderborn: Junfermann.

Reimer, C. et al. (1996). Psychotherapie. Heidelberg: Springer.

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