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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Führer

Autor
Autor:
Julia Schneider-Ermer

und Gefolgschaft hängen voneinander ab. Zum Führer taugt nur, wer andere davon überzeugen kann, daß er die richtigen Entscheidungen treffen wird. Das ist nicht eine Frage des Sachwissens oder der Urteilskraft, die man in der Gefolgschaft kaum abschätzen könnte. Es geht um den Mut zur Entscheidung, der die Bereitschaft einschließt, Gefahren in Kauf zu nehmen, und die Überzeugung, daß sogar Niederlagen wieder überwunden werden könnten. Der Führer soll also den anderen alle Qualen des Zweifels abnehmen. Er kann das nur, wenn er den Eindruck erweckt, daß er über eine ungewöhnliche Kraft verfügt. Dazu wird er sich oft auf eine höhere Eingebung, eine göttliche Kraft oder auf die Vorsehung berufen. Selbst Helden, die ihren Aufstieg der Rebellion gegen eine frühere Ordnung verdanken wie Napoleon, haben irgendwann das Bedürfnis, mit traditionellen Weihen gesalbt zu werden. Aber ihr Charisma verdanken sie doch ihrer eigenen Rücksichtslosigkeit, die ebenso bewundert wie gefürchtet wird. Deshalb leidet ihr Ansehen keinen Schaden, wenn sie in ihrem persönlichen Leben die Moral mißachten, die für ihre Gefolgschaft gelten soll. Wenn sie Prunk um sich anhäufen oder sich sexuelle Ausschweifungen gestatten, zeigen sie damit, daß sie über dem Gesetz stehen. Das gleiche gilt bei einem selbstherrlichen Richterspruch, der das geschriebene Gesetz verhöhnt. So erfüllen sie sich zugleich Wünsche, deren Befriedigung den anderen verwehrt ist. Sie benehmen sich wie Abkömmlinge der Götter, und das heißt im Grunde, wie ein Abgesandter des Vaters, der das Vorbild der Gottesvorstellung geprägt hat. Deshalb ist die Masse der Geführten bereit, ihr Gewissen (Über-Ich) an den Führer zu übertragen. Damit befreien sie sich nicht nur von Zweifeln und dem Zwang zu eigener Entscheidung, sondern auch von allen Schuldgefühlen, die ein falsches Handeln auslösen könnte. Nach dem Ende Hitlers, der den Begriff des »Führers« zu seinem Titel gemacht hatte, erlebte man, daß seine Gefolgschaft die Schuld an ihren Taten unter seiner Führung ebenso abzustreifen versuchte wie die nationalsozialistischen Uniformen. Freud hat das Verhältnis des Führers zur Masse mit der Hypnose verglichen, in der das Über-Ich an den Hypnotiseur delegiert wird. Er nannte die Hypnose eine »Masse zu zweit«; der Hypnotiseur spielt die Rolle des Führers, und die Masse verhält sich dem Führer gegenüber wie ein einzelner Hypnotisierter. Die Massenbildung, wie Gustave Le Bon sie beschrieben hat, würde nicht stattfinden ohne Führer (oder eine führende Idee), auf die sich alle Wünsche und Ängste konzentrieren könnten. Auch der sogenannte autoritäre Charakter würde in sich zusammenfallen ohne eine in Personen verkörperte Autorität.Wenn eine Gruppe entsteht (Gruppendynamik), bildet sich auch die Rolle eines oder mehrerer Führer heraus. Sie ist dadurch gekennzeichnet, daß vom Führer erwartet wird, die Aktivitäten der übrigen Gruppenmitglieder anzuleiten, zu verändern und zu überwachen, damit sie die Richtung auf die Gruppenziele hin einhalten. Dabei sind Versuche fehlgeschlagen, Eigenschaften herauszufinden, die jeden Führer auszeichnen, also eine typische Führerpersönlichkeit (Charisma) zu entdecken, die etwa durch «stählernen Willen», Überlegenheit, Unbeugsamkeit, Entschlußkraft ausgezeichnet sein soll. Wahrscheinlich trifft die Vermutung Freuds zu, daß in diesem Idealbild eines Führers nur die inneren Idealvorstellungen der Geführten durch Projektion nach außen verlegt wurden (Ich-Ideal). Die bisherige Forschung

über die Rolle des Führers in Gruppen hat gezeigt:

1. Der Rang eines Individuums in der Gruppe ist um so höher, je mehr sich dieses mit den Wertvorstellungen und Zielen der Gruppe eins fühlt.

2. Die wichtigsten Merkmale des Führers sind seine Fähigkeiten, besonders zur Zufriedenheit der Gruppenmitglieder und zum Erreichen des gemeinsamen Ziels der Gruppe beizutragen.

3. Es gibt zwei grundlegende Führertypen, die auch gemeinsam auftreten können: den «Fachmann» und den «Sozialspezialisten». Der erste leitet meist Gruppen, die in erster Linie das Ziel haben, eine besondere Aufgabe zu bewältigen (in Küstengewässern, wo es gilt, durch Riffe zu steuern, übergibt der Kapitän dem Lotsen das Kommando). Herrschen hingegen sozial-emotionale Bedürfnisse der Gruppenmitglieder vor, dann wird der Führer nach seinen Fähigkeiten ausgewählt, diese zu befriedigen. In vielen Gruppenbildungen findet sich eine Zweiheit der Führung: Generalstabschef (Fachmann) und General (Sozialspezialist).

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