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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Verkehrsresozialisation

Autor
Autor:
Anneliese Widmann-Kramer

der Prozeß der Resozialisation im Straßenverkehr: Verkehrsteilnehmer, die sich nicht nach den umfangreichen Gesetzen und Verordnungen richten, handeln unsozial und müssen daher resozialisiert werden.

1) Struktur der Resozialisation: Ist ein Verkehrsteilnehmer auffällig geworden, so wird von der Fahrerlaubnisbehörde ein Resozialisierungsprogramm angeordnet. Auf der untersten Ebene dieses Programms steht die Schulung. 1. Stufe: Sie umfaßt in der Regel eine kollektive Psychoedukation und wird von Fahrschulen (Aufbauseminare) und PMI-Stellen (besondere Aufbauseminare) angeboten. Sie kann angeordnet werden, um einem Führerscheinentzug vorzubeugen oder um den Führerschein wieder zu erlangen. Da die überwiegende Mehrheit der zu Resozialisierenden die PMU nicht bestehen (beim Personenkreis der Alkoholauffälligkeiten bis zu 94 %), wird ihnen im Vorfeld eine Beratung (2. Stufe) angeraten, die von diplomierten Verkehrspsychologen individuell durchgeführt wird. Die 3. Stufe stellt die ambulante Verkehrstherapie dar. Es handelt sich hierbei um eine Gesundheitsleistung, die von approbierten Verkehrspsychotherapeuten erbracht wird. Die stationäre Behandlung (4.Stufe) bezieht sich vorwiegend auf drogen- und alkoholabhängige Verkehrsteilnehmer und beginnt in der Regel mit der Entgiftung. Dieses vierstufige System der Verkehrsresozialisation baut auf dem Prinzip der Einsichtsbildung auf. Parallel dazu sind im Bereich der Abhängigkeiten die zahlreichen Selbsthilfegruppen zu nennen (Anonyme Alkoholiker, blaues Kreuz, Kreuzbund). Sie stellen eine sinnvolle Ergänzung dar, weil sie nach dem Prinzip des Modellernens (Nachahmung und Belohnung), der Freiwilligkeit, der Längerfristigkeit und der Gruppenverbundenheit vorgehen.

2) Inhaltliche Schwerpunkte: Man unterscheidet vier inhaltliche Tätigkeitsfelder der Verkehrsresozialisation. Mit mehr als 80% stellen die Alkoholmißbräuchler und –abhängigen das größte Klientel dar. Die Gruppe der “Punktetäter” (17%) umfaßt jene Verkehrsteilnehmer, die durch fortgesetzte Verkehrsverstöße (Ordnungswidrigkeiten, Straftaten) auffielen. Das ist eine wesentlich geringere Gruppe, als gemeinhin angenommen wird. (Nur 7% aller Autofahrer haben 1 – 8 Punkte und nur 0,03% über 18 Punkte). Die dritte Gruppe (Drogenmißbrauch) nimmt ständig zu, da es sich hier vor allem um junge Autofahrer handelt. Zwischen diesen drei Gruppen gibt es keine eindeutige Trennschärfe. In etwa der Hälfte der Fälle bezieht sich die Resozialisation auf mindestens zwei der oben aufgeführten Gruppen. Verschwindend klein ist die Gruppe jener, die nach einer Krankheit oder einem Unfall (z.B. Schädelhirntrauma, Psychose) die Fahrerlaubnis wiedererlangen wollen. Die Bezeichnung Resozialisation trifft hier nur bedingt zu, da es meist das Ziel der Beratung ist, alternative Wege aufzuzeigen.

3) Beratungs-/Therapiewege: Das zentrale Anliegen der Verkehrsresozialisation ist, vorhandene Einstellungen und Verhaltensmuster zu korrigieren. Dem stehen Änderungsblockaden gegenüber: Gewohnheiten mit fehlender Akzeptanz zum Verhaltenswandel, Fehlkalkulationen beim Nutzdenken, Unkenntnis und Desinteresse hinsichtlich des Fehlerfolgedenkens, fehlende Problemlösungsstrategien im Alltagsleben, Egoismus gepaart mit dem Unvermögen eines Perspektivenwechsels. Der Widerstand gegen die vom Gesetzgeber auferlegten Änderungen hat viele Gründe: Es werden vorwiegend Nachteile gesehen. Die Betroffenen haben hohe finanzielle und zeitliche Kosten zu tragen. Ihre Unfähigkeit, erst langfristig wirksame Vorteile schon vorwegzunehmen, gelingt ihnen nicht. Außerdem sind die Therapiewege anstrengend und werden kontrolliert. Der zu Resozialisierende sieht sich dann als Pechvogel, der für eine Bagatelle übermäßig hart bestraft wird. Mangelnde Aufklärung und von verschiedenen Interessensgruppen pauschalisierend gestreute Fehlinformationen verstärken die Änderungsblockaden. Die Eignungsbegutachtung wird als “Idiotentest” abgetan. Da die PMU eine Prognose darstellt, die sich auf vergangenes Verhalten bezieht, kommt der Erarbeitung der Motivstruktur eine hohe Bedeutung zu. Dabei stößt die Resozialisation an das Wertesystem der ehemaligen Bezugsgruppen, die es meist zu verlassen gilt (Werte). Die Resozialisation gelingt meist nur dann, wenn der Leidensdruck sehr hoch ist, die richtigen Modellpersonen zur Überwindung von Widerständen beitragen, gute Vorsätze ritualisiert werden und statt Silvestervorsätzen beharrliches “An-sich-Arbeiten” einsetzt. Die Änderungen gelingen dann, wenn ein Herausforderungsdenken mit Hoffnung (internale Kontrollerwartung) und Selbstvertrauen gepaart werden. Die Resozialisation ist abgeschlossen, wenn nach dem Einverstandensein bereits Angewendetes auch beibehalten wird.


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