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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Feindgruppe

Autor
Autor:
Anneliese Widmann-Kramer

gleichsam das Gegenbild der Gruppe, der man selbst angehört. In jeder Gemeinschaft von Menschen sind außer den Interessen und Gefühlen, die sie miteinander verbinden, auch Gegenströmungen vorhanden, die den Zusammenhalt zerbrechen könnten. Nicht jede Rivalität kann als Wettbewerb innerhalb der Gruppe zu insgesamt höherer Leistung fruchtbar gemacht werden. Die Gruppenmitglieder begegnen einander auch als Personen, die individuelle Sympathien oder Antipathien zueinander empfinden. Wenn diese persönlichen Gefühle zugunsten der Solidarität unterdrückt werden müssen, entsteht eine unbestimmte, uneingestandene Abneigung gegen die Gruppe. Hinter alledem steht die Tatsache, daß alle Gefühle ambivalent sind und es so gut wie keine Liebe ohne einen Anteil an Gegnerschaft, keine Libido ohne Kräfte der Destruktion gibt. Um die Bindung der Gruppenmitglieder aufrechtzuerhalten, müssen diese Gegengefühle von der Gruppe abgelenkt werden. Als Ziel bietet sich dann eine Feindgruppe an. Man stellt sie als gefährlich dar und gibt den Haß auf sie frei. Als Haßobjekte eignen sich merkwürdigerweise besonders solche Gruppen, die von der eigenen nicht allzu verschieden sind. Man denke an die traditionellen Aus einandersetzungen zwischen Preußen und Bayern, zwischen Flamen und Wallonen, zwischen protestantischen und katholischen Iren. Freud hat diese Erscheinung als »Narzißmus der kleinen Unterschiede« bezeichnet. Die Juden, die als Minderheiten in den verschiedensten Nationen gelebt haben, wurden zur typischen Feindgruppe überhaupt. Die abgeleitete Feindschaft verführt nicht nur zu einer Fehleinschätzung der jeweiligen Gegengruppe und kann in zerstörerische Kriege und Bürgerkriege ausarten, sondern sie macht auch die Einsicht in die Wirklichkeit der eigenen Gemeinschaft unmöglich. Manche Gemeinschaften scheinen überhaupt nur noch durch einen aufgestachelten Haß gegen eine Feindgruppe zusammengehalten zu werden. Dann könnten sie eine eigene Leistung nicht mehr erbringen. Fernsehen hat durch sein Eindringen in die »Privatsphäre« einen größeren Einfluß auf unser »persönliches« Leben als wohl jede andere technische Errungenschaft seit der Erfindung der Buchdruckerkunst. Es vermittelt zur gleichen Zeit die gleichen Eindrücke an ein riesenhaftes Publikum, das sich dabei aber keineswegs als Gemeinschaft erlebt. Damit trägt es entscheidend zur Orientierung an einer anonymen Masse statt an konkreten Personen und irgendwie noch individuell bestimmten Gruppen bei. Das Fernseh-Programm wird unvermeidlich durch die Auffassungskraft und den Geschmack des Durch schnitts vorbestimmt. Seine Bedeutung zwingt Regierungen, Parteien und andere mächtige Organisationen förmlich dazu, Einfluß zu nehmen. Wenn man es schon nicht zur Propaganda für die eigene Sache ausbeuten kann, möchte man wenigstens, daß es auch nicht für andere eintritt. So können Fernsehjournalisten trotz besserer Einsicht bei kontroversen Themen oft nicht eindeutig Stellung beziehen, sondern müssen im Sinne einer sogenannten »Ausgewogenheit« Widersprüchliches ungeklärt lassen. Da es die verschiedensten Inhalte nacheinander ohne Zusammenhang vermittelt, kann das Fernsehen keine Orientierung bieten. Am Ende erscheint alles richtig und nichts verbindlich. Zwar hat es unsere Erlebnis-und Erfahrungsmöglichkeiten unerhört verbreitert, aber die Eindrücke, die es bietet, bleiben doch Eindrücke aus zweiter Hand. Es verbindet noch die Menschen in den abgelegensten Gegenden, die Einsamen, Alten und Kranken mit aller Welt. Aber es schafft nicht eigentlich eine Kommunikation, denn die Reaktionen, die es auslöst, fließen so gut wie gar nicht zurück. Die Programm-Macher können sich nur nach Einschaltzahlen und ähnlichen statistischen Werten richten, die über die wirklichen Gründe der Anteilnahme so wenig verraten wie über die jeweils nicht befriedigten Wünsche. Manche Wirkungen werden ausgelöst, ohne daß man es wollte oder auch nur weiß. Umgekehrt hat man gelernt, unbewußte Reaktionen einzukalkulieren und die Zuschauer mit versteckten Botschaften gefühlsmäßig zu beeinflußen. Das gilt keineswegs nur für die kommerzielle Fernseh Werbung. Eine Familien-Serie, die eine >heile Welt< vorgaukelt, oder eine Fernseh-Show mit ihrem Glitzerprunk können die politische Grundhaltung der Zuschauer stärker manipulieren als offene Propaganda. Doch ist eben kein Eindruck sehr nachhaltig. Er ist zu leicht erreichbar, auf bloßen Knopfdruck, ohne jede besondere Mühe und Einstimmung. Er wird zu leicht vom nächsten Eindruck verwischt. Gerade die Unverbindlichkeit dieser schnell wechselnden Reize bietet eine Art Schutzfilm gegen die Schwierigkeiten der Auseinandersetzung mit der wirklichen Welt. Das Fernsehen kann einen Rausch liefern, der süchtig macht. Häufiger Fern seh-Kon sum hinterläßt oft ein unbestimmtes Gefühl der Trauer, das wohl mit einer Hochflut der Eindrücke zusammenhängt, auf die man nicht aktiv reagieren kann. Oft wurde schon darauf hingewiesen, daß diese Bereitstellung passiver Genüsse alle aktiven Bemühungen bremst. Das Fernsehgerät macht den Familienkreis zum Halbkreis rund um den Bildschirm. Man spricht nicht mehr miteinander; die Beziehungen laufen größtenteils zum Gerät. Weniger diskutiert wurde bisher die einzigartige Fähigkeit des Fernsehens, Realität mit Fiktion zu vermischen. Erfundene Geschichten kön nen so überzeugend dargestellt werden, als geschehen sie tatsächlich. Reportagen beruhen, schon aus technischen Gründen, auf einem Maß an Arrangement, das die Wirklichkeit verfärbt und bis zur Unwahrheit verfälscht. Das Fernsehen verführt dazu, alles für möglich und nichts für verläßlich zu halten. Damit fördert es entscheidend das Gefühl der Entfremdung, das für unsere Zeit so typisch und psychologisch so gefährlich ist. Wie gefährlich oder wie bereichernd das Fernsehen für den Einzelnen ist, wird davon abhängen, wie gut er gelernt hat, es bewußt und kritisch zu benutzen, statt ihm passiv zu verfallen.

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