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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Werte

Autor
Autor:
Sonja Margarethe Amstetter





Werte als Selektionshilfen

Nach Kluckhohn (1951, S. 395) ist ein Wert eine Auffassung vom Wünschenswerten, die explizit oder implizit für einen einzelnen oder eine Gruppe kennzeichnend ist und die Auswahl der zugänglichen Weisen, Mittel und Ziele des Handelns beeinflußt. Kmieciak (1976, S. 150) verweist darauf, daß ein Wert auch die Wahrnehmung mit beeinflußt; ein Wert ist danach ein kulturell und sozial determiniertes (und geltendes) dynamisches, ich-zentrales, selbstkonstitutives Ordnungskonzept, das den System-Input einer Person (also ihre Wahrnehmung) selektiv organisiert und akzentuiert sowie ihren Output (ihr Verhalten) reguliert. Dadurch ermöglicht das Konzept eine aktive Planung und Ausrichtung des Verhaltens über verschiedene Situationen hinweg.

Die erste Definition unterstreicht die soziale Genese von Werten, würde einen Wert also eher dem sozialen System zuordnen; die zweite Definition betont die Unterstützung der Regelung des psychischen Systems durch Werte; nach dieser Definition ließe sich ein Wert als Element des psychischen Systems verstehen. Der Begriff “Wert” wird mehrheitlich verstanden als Element des sozialen Systems, “Werthaltung” oder “Wertorientierung” (das jeweilige individuelle Wertsystem) als im Prozeß der individuellen Sozialisation erworbenes Muster zur Regelung des psychischen Systems. Im Begriff des Wertes ist das Überindividuelle, das über den einzelnen und seine Lebenserfahrung Hinausreichende verdichtet: Ein Wert ist nicht etwas dem einzelnen beliebig Verfügbares, vielmehr ist er ein soziokulturell Gewordenes, das sich so und nicht anders herausgebildet hat. In einer bestimmten sozialen und ökonomischen Situation waren ganz bestimmte Denk- und Handlungsmuster hilfreich. Das Ordnungskonzept “Wert” erleichtert es, sich in einer unübersichtlichen Welt zurechtzufinden, lenkt es doch die Wahrnehmung auf ganz bestimmte Ausschnitte aus der Umwelt und blendet alle anderen aus. Darin liegt aber auch eine große Gefahr: Angenommen, die Passung von Wertsystem und (soziokultureller und biophysikalischer) Umwelt ist nicht mehr optimal. Die Umwelt, für die das betreffende Wertsystem einmal funktional war, hat sich verändert. Was man von der nun veränderten Umwelt aufnimmt oder wie man sich in ihr verhält, wird der veränderten Umwelt nicht mehr angemessen sein. Diese Sicht des Wertes bedeutet auch, daß sich der einzelne nicht beliebig schnell eines einmal erworbenen Wertsystems entledigen und es durch ein neues ersetzen kann. Das konkrete Verhalten ist aber keinesfalls allein durch Werte bestimmt. Die Umstände, unter denen der Mensch handelt, die herrschenden Normen und letztlich seine (begrenzten bzw. fehlenden) Fähigkeiten können die Realisierung dessen, was er für wünschenswert hält, behindern oder gar unmöglich machen.

Vom Konzept des Wertes bzw. der Werthaltung grenzt man üblicherweise das der Einstellung ab. Diese richtet sich auf konkrete Gegenstände, bestimmte Personen oder spezifische Situationen. Ein Wert dagegen beeinflußt Wahrnehmungen und Handlungen über viele spezifische Situationen, Personen und Gegenstände hinweg. Auch eine Einstellung hat situationsübergreifende Regelungseigenschaften, bezieht sich dabei aber immer auf abgrenzbare Klassen von Objekten oder nur auf einzelnes Objekt; eine Werthaltung dagegen bündelt eine große Menge ähnlicher Einstellungen, hat also weit übergreifendere Regelungskapazitäten.



Wandel von Werten

Gegen Ende der 70er Jahre tauchte ein Begriff auf, der seit damals die Gemüter bewegt: der “Wertewandel”. Damit war nun nicht mehr die als quasi-evolutionär zu verstehende ständige Veränderung von Werten gemeint, sondern eine in den Augen einiger Zeitgenossen epochale Umwälzung, die beinahe alle gesellschaftlichen Bereiche erfaßt hatte. Inglehart (1977) bezeichnete diesen aus dem stetigen Fluß der Ereignisse herausragenden Umbruch als “stille Revolution”. Folgende Schwerpunkte eines Wertewandels lassen sich ausmachen:

– Alle Lebensbereiche werden zunehmend säkularisiert.

– Die eigene Selbstentfaltung und der eigene Lebensgenuß werden betont.

– Die Menschen sind bestrebt, ihre Gesundheit zu bewahren.

– Frauen kämpfen um ihre Gleichstellung und Emanzipation.

– Die Sexualität löst sich von überkommenen gesellschaftlichen Normen.

– Die Menschen sind weniger bereit, sich unterzuordnen.

– Berufliche Arbeit wird weniger als Pflicht gesehen.

– Freizeit wird höher bewertet.

– Unzerstörte Natur wird höher geschätzt.

Kmieciak (1978, S. 133) sieht hinter diesen Phänomenen einen Bedeutungsverlust traditioneller Berufs- und Leistungsorientierung, veränderte Erziehungsmaximen, veränderte Geschlechtsrollenbilder sowie eine verstärkte Umweltorientierung (Umweltpsychologie). Diese Phänomene wurden häufig und keineswegs einheitlich interpretiert. Inglehart (1977) sah anders als eher moralisierende Autoren keinen Verfall, sondern lediglich eine Verschiebung von Werthaltungen auf einer einzigen Dimension: vom materialistischen zum postmaterialistischen Ende. Klages (1984) postulierte im Unterschied zu Inglehart ein zweidimensionales Modell: Pflicht- und Akzeptanzwerte auf der einen und Selbstentfaltungswerte auf der anderen Dimension. Wertewandel bedeutet für ihn Rückgang der Pflicht- und Akzeptanzwerte bei gleichzeitigem Anstieg der Selbstentfaltungswerte.



Ursachen des Wertewandels

Der Wertewandel wird auf eine Reihe unterschiedlicher Ursachen zurückgeführt. Die besonders häufig genannten lassen sich nach ihrer zentralen Thematik zu drei Gruppen zusammenfassen:

1) Eigenschaften der Außenwelt stehen im Mittelpunkt. Strukturen werden betont: Psychische Strukturen bilden sich in Interaktion mit den Strukturen unserer Umwelt heraus. Nebenwirkungen werden betont: Strebt man nach bestimmten Zielen und erreicht man sie schließlich, hat das zuvor nicht bedachte oder unerwünschte Nebenwirkungen beim Handelnden, in der biophysikalischen und sozialen Umwelt zur Folge.

2) Psychische Prozesse stehen im Mittelpunkt. Primäre Sozialisation als kritische Phase: Jeder Mensch wird durch all das, was er in der frühesten Phase seiner (sozialen) Entwicklung - in der Kindheit also - erlebte, nachhaltig geprägt. Bedeutungsverlust von Bedürfnissen und Zielen: Befriedigte Bedürfnisse bzw. erreichte Ziele verlieren im Erleben des Menschen an Bedeutung; andere Bedürfnisse oder Ziele werden wichtig. Defizite werden wahrgenommen: Hat ein Mensch ein Ziel erreicht, das er sich gesetzt hat, bemerkt er häufig Mängel, auf die er zuvor nicht geachtet hatte.

3) Die Verbreitung von Werthaltungen steht im Mittelpunkt. Veränderung der Altersstruktur, Verbesserung der Bildung, Einflüsse von Multiplikatoren.

Jede dieser Hypothesen hebt jeweils einen Aspekt hervor. Sie schließen einander nicht aus; man kann sie vielmehr als zueinander komplementär auffassen. Nimmt man jene Hypothesen zusammen, die sich auf Strukturen der Umwelt und psychische Prozesse konzentrieren, so kann der Wertewandel als Prozeß der Passung von Wahrnehmungs- und Verhaltensdispositionen mit den Bedingungen einer veränderten biophysikalischen, sozialen und ökonomischen Umwelt verstanden werden.



Werte und Organisationen der Wirtschaft: Ist und Soll

Die Phänomene, die als Indikatoren eines Wandels von gesellschaftlichen Werten bzw. individuellen Werthaltungen interpretiert werden können, sind hauptsächlich mit wirtschaftlichem Handeln bzw. mit beruflicher Arbeit verknüpft. Gerade der wirtschaftliche Bereich, der einerseits im Bewußtsein der Öffentlichkeit ein Garant für Wohlstand ist, scheint andererseits verantwortlich für die Bedrohung der Umwelt.

Seit den frühen 80er Jahren des 20. Jh. werden Mitarbeiter großer Organisationen der Wirtschaft aus verschiedenen Berufszweigen und unterschiedlichen beruflichen Positionen und junge Menschen, die noch nicht im Arbeitsleben stehen, nach den (drei wichtigsten) Zielen gefragt, die ihrer Meinung nach von den großen Organisationen der Wirtschaft verfolgt werden (“Istziele”). Außerdem werden sie gebeten anzugeben, welche (drei) Ziele ihrer Meinung nach verfolgt werden sollten (“Sollziele”). Die Diskrepanz zwischen dem Ist und dem Soll läßt sich interpretieren als ein Indikator für die Bereitschaft, sich mit den Zielen der Organisationen zu identifizieren, als Identifikationsbereitschaft (Stengel, 1987). Eine große Diskrepanz weist auf eine geringe Bereitschaft, eine kleine Diskrepanz auf eine hohe Bereitschaft hin, sich mit diesen Zielen zu identifizieren. Besonders interessant sind dabei Personen in beruflichen Positionen, die weisungsbefugt sind und damit über Machtpotentiale verfügen. Sie können als Multiplikatoren bzw. Distributoren von Werten gelten, ähnlich den Lehrern in der sekundären und den Eltern in der primären Sozialisation. Als Vergleichsgruppe wurden immer wieder jene jungen Menschen herangezogen, die in Zukunft wahrscheinlich über solche Machtpotentiale (Macht) verfügen werden. Diese beiden Gruppen unterscheiden sich nun weniger in ihrer Wahrnehmung des Istzustandes als vielmehr in ihren Forderungen, wie der Sollzustand auszusehen habe: In den Augen aller Befragten geht es den Organisationen der Wirtschaft primär um materialistische Ziele: Wachstum, Steigerung des Gewinns, auch um technischen Fortschritt. Die postmaterialistischen Ziele, nämlich Umweltschutz, Persönlichkeitsentfaltung und Entwicklung der sogenannten “Dritten Welt” dagegen spielen nach der übereinstimmenden Meinung aller Befragten keine Rolle. Uneins ist man sich lediglich darin, wie stark die Sicherung von Arbeitsplätzen betrieben würde (von Rosenstiel, 1992). Bedeutsamer als die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen, die man als Generationenunterschiede interpretieren kann, sind die enormen Unterschiede zwischen dem Ist und dem Soll innerhalb der Gruppen. Offensichtlich können sich selbst die Repräsentanten der Organisationen der Wirtschaft nicht mehr so recht mit diesen Zielen identifizieren. Die Kluft zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, zeigt sich beispielhaft an den Zielen Wachstum, Gewinn und Umweltschutz (Umweltpsychologie). Die organisationalen Strukturen erzwingen ein Handeln, das sich mit dem in ihren Augen “richtigen” Handeln nicht mehr deckt (Wirtschafts- und Unternehmensethik).

Literatur

Fietkau, H.-J. (1984). Bedingungen ökologischen Handelns. Gesellschaftliche Aufgaben der Umweltpsychologie. Weinheim: Beltz.

Inglehart, R. (1977). The Silent Revolution: changing values and political styles among Western publics. Princeton, N.J. 1977.

Klages, H. (1984). Wertorientierungen im Wandel: Rückblick, Gegenwartsanalyse, Prognosen. Frankfurt/Main 1984.

Kluckhohn, C. (1951). Values and value-orientation in the theory of action: An exploration in definition and classification. In: Parsons, T. & Shils, E. (eds.): Toward a General Theory of Action. Cambridge/Mass.: Harvard University Press, S. 388 – 433.

Kmieciak, P. (1978). Werteverfall als Kernproblem westlicher Gegenwartsgesellschaften. Sonde, 11 (2/3), 126 - 137.

Rosenstiel, L.v. (1992). Führungs- und Führungsnachwuchskräfte: Spannungen und Wandlungen in Phasen gesellschaftlichen Umbruchs. In: ZfP, 3, 1992, S. 327 - 351.

Stengel, M. (1987). Identifikationsbereitschaft, Identifikation, Verbundenheit mit einer Organisation oder ihren Zielen. Psychologie und Praxis. Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie, 31(4), 1987, S. 152 - 166.


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