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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Zwangsstörungen

Autor
Autor:
Klaus-Dieter Zumbeck

haben als Hauptmerkmal wiederkehrende Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen. Zwangshandlungen (compulsions) sind sich wiederholende Verhaltensweisen, die sich vorwiegend in Reinigungs- und Kontrollzwängen äußern. Zudem können sie die Form von Berührungs- oder Zählzwängen annehmen. Die Handlungen werden mit dem Ziel ausgeführt, Angst und Unwohlsein, aber auch Schuldgefühle zu reduzieren bzw. zu vermeiden. Die Zwangsgedanken (obsessions) finden ihre Äußerung in intrusiven Gedanken, Impulsen und Bildern mit bspw. sexuellem oder blasphemischem Charakter; sie können auch als zwanghaftes Grübeln über die eigene Unvollkommenheit oder Schuldigkeit auftreten. Sie werden als unangenehm und aufdringlich erlebt und verursachen Angst und erhebliches Leiden. Die betroffene Person versucht, diese Gedanken durch verschiedene kognitive Strategien oder Verhaltensrituale zu kontrollieren. Patienten mit Zwangsstörungen sind sich zu jeder Zeit der Unsinnigkeit und Absurdität ihrer zwanghaften Gedanken und Handlungen bewußt. Das Ausmaß dieser Einsicht ist variabel; Zwänge werden subjektiv oft nur bei „ruhiger Überlegung“ (Röper, 1998) als sinnlos erkannt.

Epidemiologie und Ätiologie: In der Schichtzugehörigkeit sowie der Geschlechtsverteilung gibt es – entgegen früherer Annahmen – keine gravierenden Unterschiede, obwohl Kontrollzwänge bei Männern überwiegen und schon im Alter von ca. 18 Jahren beginnen, während Waschzwänge bevorzugt bei Frauen auftreten und später beginnen, mit etwa 27 Jahren. Ein Störungsausbruch nach dem fünften Lebensjahrzehnt ist äußerst selten. Der durchschnittliche Beginn der Störung liegt in den frühen 20er Jahren. Nach der Theorie von Rachman und Hodgson gehen Zwangsstörungen auf eine konstitutionelle Komponente und einen überprotektiven und kontrollierenden elterlichen Erziehungsstil zurück: Überprotektion führe zu Waschzwängen, überkritisches und übergenaues Erziehungsverhalten eher zu Kontrollzwängen. Obwohl diese Theorie mit der klinischen Erfahrung konform geht, liegen keine gesicherten empirischen Belege dazu vor. Das Verkettungsmodell von Reinecker (1994) konzentriert sich auf den Aspekt der selektiven Aufmerksamkeit: Genetische Prädisposition, familiäre und Entwicklungsbedingungen (Sicherheit-Autonomie) stellen den Hintergrund selektiver Aufmerksamkeit dar. Salkovskis (1999) unterscheidet zwischen einer Stimulus- und einer Reaktionskomponente: Aufdringliche Gedanken (Stimulus) verursachen demnach bei bestimmten Personen aufgrund ihrer persönlichen Entwicklungsgeschichte eine eigentümliche Bewertung. Damit einher gehen weitere Gedanken, die Unsicherheit, Erregung, Unruhe sowie Schuld auslösen. Die Person versucht daraufhin, eine Reduktion dieses unangenehmen Gefühlszustandes mit Hilfe von „Gegengedanken“ zu erreichen (Reaktionskomponente). Da es durch diesen Versuch zu einer zumindest kurzfristigen Entspannung kommt, wirkt die Strategie (d.h. das Zwangsritual) i.S. einer negativen Verstärkung und verfestigt sich .

Röper (1998) beschreibt das Sicherheitsmodell der Entstehung von Zwangsstörungen, das Elemente vorhandener Modelle integriert und sie um die entwicklungspsychologische Komponente ergänzt. Eine Vielzahl negativer Entwicklungseinflüsse bündelt sich zu einem Entwicklungspfad, der in eine Zwangsstörung mündet. Im Kern steht ein Gefühl mangelnder Sicherheit, das durch zwei Faktoren beeinflußt wird: durch ein konstitutionell erhöhtes Erregungsniveau sowie durch problematische/pathologische Netzwerkstrukturen und die Prägung des Patienten durch die erlebte Familienatmosphäre (rigide und moralische Standards, vielfältige Spannungen und Unsicherheiten). Das Kind versucht, seine Schwierigkeit, einen sicheren Platz in diesem Spannungsfeld zu finden, durch die Erschaffung von Ritualen zu bewältigen, die zumindest eine vorübergehende Beruhigung schaffen.

Therapie: Bewährt hat sich die Methode der Exposition und Reaktionsverhinderung („exposure and response prevention“): Die Patienten werden wiederholt mit den Situationen, Gegebenheiten oder Gegenständen konfrontiert, die Zwangsrituale auslösen (Exposition). Anders als sonst sollen sie jedoch nicht ihrem gewohnten Verhalten (Neutralisieren durch Vermeidung, Reinigungsrituale o.ä.) nachgehen, sondern die aufkommenden Gefühle und Gedanken von Angst und Unwohlsein aushalten (Reaktionsverhinderung). Entscheidend für den Erfolg der Therapie ist das Erleben des Patienten, daß sich die Angst auch ohne Zugriff auf die Zwangsrituale reduziert. Mit fortschreitender Therapie erwirbt der Patient immer mehr Kompetenz im Umgang mit den gefürchteten Situationen, aufkommenden Ängsten und Katastrophenphantasien.

In der Behandlung von Zwangsgedanken wird mehr die kognitive Komponente betont. Der therapeutische Umgang mit Zwangsgedanken gestaltet sich schwieriger, weil zum einen ihr Aufkommen nicht angstreduzierend, sondern angstinduzierend wirkt, zum anderen sich diese externer Beobachtung entziehen. Beim Habituationstraining bspw. wird der Patient angehalten, seine Zwangsgedanken immer wieder zu evozieren und sich mit diesen zu konfrontieren. Die hinter diesem Vorgehen stehende Hypothese besagt, daß durch diese intensive Konfrontation die gefürchteten Gedanken ihre Bedrohlichkeit verlieren. In einer Variante dieser Methode werden die Patienten aufgefordert, ihre Zwangsgedanken auf Tonband zu sprechen und sich anschließend mehrmals am Tag damit zu konfrontieren.

Zusätzlich zur Konfrontations- bzw. Habituationstherapie bespricht, analysiert und konfrontiert der Therapeut die zugrundeliegenden dysfunktionalen Überzeugungen der Patienten (bspw. die Überzeugung, daß negative Gedanken schrecklich und anormal sind etc.) wie auch die konkreten Bedingungen, die mit den zwanghaften Gedanken einhergehen. Ein wichtiger therapeutischer Schritt ist dann erreicht, wenn es dem Patienten gelingt, seine Zwangsgedanken in Abhängigkeit von einer bestimmten Bedingung beginnen zu lassen (Reinecker, 1998). Dies stellt für den Patienten einen ersten Schritt subjektiver Kontrolle der Gedanken dar.

Darüber hinaus haben sich bestimmte Antidepressiva – Clomipramin (Anafranil®) und Fluoxetin (Fluctin®) – bei 50-80% der Patienten mit Zwangsstörungen als wirksam erwiesen. Diese sorgen dafür, daß der Neurotransmitter Serotonin wieder in genügend großer Menge im Gehirn vorkommt, wodurch sich im Verlauf der Therapie die Symptomatik um 40-50% verbessert. Wenn die Medikamente abgesetzt werden, flackert diese jedoch wieder auf (Medikalisierung).

Literatur

Reinecker, H. (1998). Zwangshandlungen und Zwangsgedanken. In: Reinecker, H. (Hrsg.). Lehrbuch der Klinischen Psychologie. Göttingen: Hogrefe, 3. Aufl., S. 183-205.

Röper, G. (1998). Auf der Suche nach Sicherheit. Ein klinisch-entwicklungspsychologisches Modell zur Entstehung und Aufrechterhaltung der Zwangsstörung. Psychotherapie, 3 (2), S. 263-280.

Salkovskis, P.M. (1999). Understanding and treating obsessiv-compulsive disorder. Behaviour Research and Therapy, 37, S. 29-52.

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