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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Online-Sucht

Autor
Autor:
Klaus-Dieter Zumbeck

auch: Internet-Sucht. Das Internet und andere Computernetze bieten mit ihrer Vielfalt an Online-Medien diverse Nutzungsmöglichkeiten, denen sich einige Menschen so intensiv widmen, daß von Online-Sucht (auch) gesprochen wird. Online-Sucht kann gemäß der Vielfalt der Nutzungsmöglichkeiten ganz unterschiedliche Formen annehmen: Bei manchen Online-Süchtigen steht Online-Einkauf, bei anderen Online-Glücksspiel oder Online-Pornografie im Zentrum, wieder andere konzentrieren sich auf das Recherchieren und Publizieren im World-Wide Web oder auf die Teilnahme an Chat-Foren. Ob es sich bei der alltagssprachlichen Online-Sucht um ein abgrenzbares neues klinisches Störungsbild handelt, das dann auch in das DSM und den ICD aufzunehmen wäre, oder ob exzessive Netznutzung nur ein weiteres Symptom ist, in dem sich bekannte Störungen manifestieren, ist momentan wissenschaftlich noch nicht geklärt. Fest steht jedoch, daß eine potentielle Online-Abhängigkeit nicht einfach aus der Stundenzahl abzuleiten ist, die eine Person mit Netzaktivitäten verbringt. Vielmehr wäre in Anlehnung an die Definition nicht-stoffgebundener Süchte (z.B. Glückspielsucht) nur dann von "Online-Sucht" zu sprechen, wenn die Netzaktivitäten eine starke Einengung des Verhaltensraumes und ernsthafte negative Konsequenzen im psychischen, physischen oder sozialen Bereich nach sich ziehen, wenn die im Netz verbrachte Zeit trotzdem nicht reduziert werden kann (Kontroll-Verlust), sondern vielmehr eher gesteigert wird (Toleranz-Entwicklung) und in netzabstinenten Zeiten Entzugs-Erscheinungen auftreten.

Bislang im Kontext der Online-Forschung durchgeführte Fragebogen-Studien zur Online-Sucht arbeiten mangels verbindlicher diagnostischer Kriterien mit sehr unterschiedlichen Indikatoren, die meist auch gar nicht validiert sind. Werden diese Ad-hoc-Fragebögen unter der Überschrift "Online-Sucht" im Netz verbreitet und vornehmlich von Betroffenen beantwortet, so läßt sich anhand der Ergebnisse kaum abschätzen, wie verbreitet Probleme mit exzessiver Netznutzung in der Netzpopulation insgesamt sind. Online-Umfragen, die nicht explizit "Online-Sucht", sondern "Online-Verhalten" abfragen, beziffern den Anteil an "Süchtigen" typischerweise auf rund 10%. In absoluten Zahlen wäre damit weltweit von mehreren Millionen Online-Süchtigen auszugehen, einer riesigen neuen Klientel für die Psychotherapie.

Erste verhaltenstherapeutische Konzepte zur Behandlung von Online-Sucht liegen vor. Sie laufen darauf hinaus, die betroffene Person für jene Situationen zu sensibilisieren, in denen sie sich typischerweise dem Netz zuwenden, und dann Handlungsalternativen zu etablieren, die die Netznutzung ebenso wie die daraus resultierenden negativen Konsequenzen reduzieren (z.B. im Falle von Einsamkeitsgefühlen lieber etwas mit den Kindern unternehmen als Chat-Foren aufzusuchen). Dabei geht es in der Regel nicht darum, Netznutzung komplett aufzugeben, sondern sie besser zu dosieren und zu kontrollieren (z.B. mittels Zeitmanagement). Interventionen sollten natürlich nicht nur bei der Veränderung des Online-Verhaltens ansetzen, sondern auch bei den möglichen Ursachen, die die belastende Ausgangssituation bedingen (z.B. warum fühlt sich die betroffene Person so oft einsam, woher rühren die Arbeits- oder Beziehungsprobleme).

Die Diskussion um Online-Sucht ist aber nicht nur im klinischen Kontext, sondern auch im größeren Rahmen als Teil unserer kulturellen Aneignung der neuen Online-Medien zu interpretieren. Hat man dem Internet als solchem erst einmal Sucht-Potential zugesprochen, so werden Nutzungs-Kontrollen und -Beschränkungen plötzlich leichter legitimierbar. Da in der Informations- und Mediengesellschaft der private und berufliche Umgang mit Medien einen immer größeren Raum einnimmt, ist es notwendig, ganz allgemein pathologische Formen des Mediennutzungsverhaltens verstärkt zu untersuchen und präventive, kurative sowie rehabilitative Maßnahmen zu entwickeln. In der Klinischen Psychologie wird es wichtiger werden, problematische Aspekte des Mediennutzungsverhaltens in der Anamnese zu thematisieren. Eine Neu- und Weiterentwicklung der diagnostischen Kriterien und Instrumente auf dem Gebiet der pathologischen Mediennutzung sollte nicht nur das Arbeitskonzept "Online-Sucht" präzisieren (und ggf. verwerfen), sondern auch andere Medien mit ihrem je eigenen möglichen Abhängigkeitspotential berücksichtigen (z.B. telefonische Partylines, Computer- und Videospiele). Schließliche wäre die klinische Perspektive zu ergänzen durch eine gesundheitspsychologische. Denn in der Informations- und Mediengesellschaft ist Medienkompetenz nicht nur ein Faktor beruflicher Qualifikation und kultureller Partizipation, sondern auch individueller Gesundheit.


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