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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Raumvorstellungsfähigkeit

Autor
Autor:
Anneliese Widmann-Kramer

auch: räumliche Fähigkeit, Raumvorstellung, spatial ability; die Begabung, in der Vorstellung räumlich zu sehen und zu denken, d.h. im Gedächtnis gespeicherte mehrdimensionale Vorstellungsbilder zu reproduzieren und mit ihnen mental zu operieren. Bei der Raumvorstellung handelt es sich um eine eigenständige intellektuelle Fähigkeit mit interindividueller Variation wie beim logisch-schlußfolgernden Denken, beim Umgang mit sprachlichem Material und bei der Fähigkeit, rasch und exakt wahrzunehmen. Schon der erste Intelligenztest von Binet und Simon, der Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt wurde, beinhaltete Raumvorstellungsaufgaben. Heute wird die Raumvorstellungsfähigkeit entweder über Unterskalen von Intelligenztests (z.B. LPS, ISA, IST 70; Wilde-Intelligenztest) erfaßt oder mit Hilfe von speziellen Raumvorstellungstests. Beispiele für im deutschsprachigen Raum verbreitete Raumvorstellungstests sind die “Schlauchfiguren” (Stumpf & Fay, 1983), der Dreidimensionale Würfeltest 3DW (Gittler, 1990) und die “Schnitte” (Fay & Quaiser-Pohl, 1999; vgl. Abb.). Die praktische Bedeutung der Raumvorstellungsfähigkeit liegt vor allem bei der Diagnostik mathematischer, speziell geometrischer Fähigkeiten in der Schule, bei der Beratung von Bewerbern für mathematisch-naturwissenschaftliche oder technische Studiengänge und bei der Rekrutierung geeigneter Bewerber für Ausbildungsberufe in diesem Bereich (z.B. technischen Zeichnern).

Bei der Raumvorstellung handelt es sich um kein einheitliches Konstrukt; es lassen sich vielmehr verschiedene Unterfaktoren voneinander abgrenzen. So unterscheiden Linn und Peterson (1985) in ihrer Meta-Analyse beipielsweise drei Raumvorstellungsfaktoren: a) die räumliche Wahrnehmung (“spatial perception”), d.h. die Wahrnehmung der räumlichen Relationen zwischen Objekten und ihren Bezug zur Lokalisation des eigenen Körpers, wozu z. B. der Umgang mit Horizontalität und Vertikalität gehört, b) die räumliche Veranschaulichung (“spatial visualization”) als komplexe Verarbeitung und Manipulation räumlicher Informationen in mehreren Schritten und c) die mentale Rotation (“mental rotation”), die gedanklich vollzogene Drehung zwei- oder dreidimensionaler Objekte. Thurstone (1951) klassifizierte dagegen einen Faktor Veranschaulichung (“visualization”) als die Fähigkeit, sich ein räumliches Muster vorzustellen, dessen Teile sich zueinander bewegen oder gegeneinander ausgetauscht werden, von dem Faktor Räumliche Beziehungen (“spatial relations”), der Fähigkeit, ein Objekt wiederzuerkennen, wenn man es aus verschiedenen Perspektiven sieht, und (c) der Räumlichen Orientierung (“spatial orientation”), also der Beschäftigung mit räumlichen Beziehungen, bei denen die Ausrichtung des eigenen Körpers einen wesentlichen Bestandteil des Problems darstellt.

Allen Raumvorstellungsfaktoren gemeinsam ist, daß sie Prozesse der kognitiven Auseinandersetzung mit Raum beschreiben, die sich auf sogenannte “small-scale spaces” beziehen. Dieser Begriff umschreibt weniger die tatsächliche Größe des interessierenden Raumes als vielmehr die Tatsache, daß der Betrachter den “Raum” bzw. die Objekte (z. B. die Würfelfiguren), mit denen er operieren soll, von seinem Standpunkt aus vollständig überblicken kann. Darin unterscheidet sich die Raumvorstellung von den räumlichen Repräsentationen.

Trotz des Facettenreichtums der Raumvorstellung konnte immer wieder beobachtet werden, daß weibliche Probanden in Raumvorstellungstests schlechter abschnitten als männliche. So galt die Raumvorstellung lange, neben den mathematischen und sprachlichen Fähigkeiten und der Aggressivität, als eine von vier psychologischen Variablen, bei denen konsistent Geschlechtsunterschiede zu beobachten sind. Neuere Meta-Analysen haben diese Befunde teilweise widerlegen können; das Ausmaß der Geschlechtsunterschiede ist beispielsweise bei vielen Raumvorstellungsaufgaben über die letzten Jahrzehnte geringer geworden. In bezug auf die Leistungen im Mental-Rotation-Test (MRT) haben sich die Effektstärken mit der Zeit aber kaum verändert. Bisher ebenfalls noch nicht geklärt ist, in welchem Alter Geschlechtsunterschiede in der Raumvorstellung zum ersten Mal zu beobachten sind. Lange Zeit datierte man deren erstes Auftreten um den Zeitpunkt der Pubertät, in neueren Untersuchungen wurden allerdings schon im Grundschulalter Geschlechtsunterschiede zugunsten der Jungen beobachtet.

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