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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Wiederholungszwang

Autor
Autor:
Manuela Bartheim-Rixen

die Sucht, Situationen wiederherzustellen, die man schon mehrmals durchlebt hat. So bilden sich Muster, denen ein Mensch immer wieder folgt. Die Erziehung in der Familie, überhaupt in der Gesellschaft, fordert oder begünstigt solche Prägungen. Es werden geradezu Rollen-Vorschriften entwickelt. An ihnen wird oft auch dann noch festgehalten, wenn sie veränderten Verhältnissen nicht mehr angemessen sind. Aber die Bindung an Wiederholungsmuster wäre als Mittel der Sozialisation nicht so wirksam, wenn es nicht im Einzelnen den Drang zu Wiederholungen gäbe. Er fiel zuerst bei den seelenärztlichen Bemühungen der Psychoanalyse auf. Patienten, die sich an ihre früheren Konflikte nur erinnern sollten, führten sie stattdessen in ihrem Verhältnis zum Arzt gleichsam noch einmal vor (vgl. Übertragung). In anderen Formen der Psychotherapie ermuntert man die Kranken geradezu zum »Agieren« in der Hoffnung, daß die Konflikte so abreagiert und unschädlich gemacht werden könnten (»acting out«). Aber in der therapeutischen Situation zeigt sich nur besonders deutlich, was sich im täglichen Leben tausendfach abspielt. Es werden nicht etwa nur Verhältnisse gesucht, die sich als angenehm erwiesen haben, sondern ganz im Gegenteil auch solche Situationen wiederhergestellt, die Leid im Gefolge hatten. Da läßt sich jemand immer neu auf Aufgaben ein, an denen er schon häufig gescheitert ist, und mit dieser Erfahrung ist der abermalige Mißerfolg gleichsam vorprogrammiert. Da wird nach dem Scheitern einer Ehe eine Liebeswahl getroffen, die dem gleichen Imago entspricht; es wird also der Fehler wiederholt, der ein neues Scheitern zur Folge haben muß. In der Beziehung zu nächsten Angehörigen werden Streitpunkte, über die man sich nie einig werden konnte, stets neu aufgebracht, auch wenn sie längst unwichtig geworden sein sollten. Zum Typ des Unfällers gehört es, daß er sein Unglück immer wieder unbewußt arrangiert. Die Unfähigkeit, sich von früherem Unheil zu lösen, ist im Extrem das Kennzeichen einer traumatischen Neurose. Diese Erscheinungen des Wiederholungszwanges, die »jenseits des Lustprinzips« liegen, führten Freud zu der Annahme eines Todestriebes, der darauf ausgerichtet sei, den Zustand vor der Geburt wiederherzustellen. Bis zu einem gewissen Grade lassen sich die zwanghaft-unbewußten Wiederholungen wohl als Bemühung verstehen, einen alten Konflikt durch ständige Neubelebung endlich zu überwinden. Das Unheil wird zugleich als Sühne für eine alte Schuld gesucht; insoweit folgt der Wiederholungszwang also dem unbewußten Strafbedürfnis. Jede, auch die schädliche Wiederholung scheint eine Sicherung gegen neue Probleme zu versprechen. Die sichernde Wirkung von Wiederholungen bestimmt nahezu alle Rituale, aber auch die Klischee-Vorstellungen und Vorurteile. Jede Sucht ist im Grunde ein Wiederholungszwang. Wissenschaft, die intensive Bemühung um Erkenntnis der Realität, besonders um die Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung. Die Forschung gilt letzten Endes der Hoffnung, die Natur zum Nutzen des Menschen einsetzen und sogar verändern zu können, also eine Technik zu entwickeln. Dieses Ziel bestimmte bereits die Magie. Aber sie folgte noch völlig dem Wunschdenken, indem sie von der Vorstellung ausging, die natürliche Umwelt sei geradeso zu beeinflussen wie der Mensch selbst (»Allmacht der Gedanken«). Wie aus der Magie Wissenschaft wurde, zeigt der Weg von der Astrologie zur Astronomie, von der Alchimie zur Chemie. An sich müßte die Wissenschaft frei sein von Wünschen und Ängsten. Sie müßte alle Forderungen ablehnen, die Richtigkeit irgendeiner Religion oder Weltanschauung zu >beweisenNicht kontrollierbarer, unbewußter Vorgang, durch den sich ein Mensch immer wieder in unangenehme Situationen bringt und auf diese Weise alte, belastende Erfahrungen wiederholt; dabei erinnert er sich nicht an die Vorerfahrung, sondern glaubt, etwas in der Gegenwart Begründetes zu erleben. Der Wiederholungszwang gehört zu den wichtigsten und in ihren Ursachen dunkelsten Erscheinungen im Forschungsbereich der Psychologie. Während normalerweise Lernen adaptiv ist, das heißt der Anpassung und dem Überleben dient, scheint im Wiederholungszwang diese Eigenschaft des Lernens für den Betroffenen ungültig. Er meidet Situationen, die ihm Lust bringen, sucht schädigende, ja selbstzerstörerische Situationen auf oder stellt sie, ohne es zu merken, selbst her. Er weist Menschen ab, deren Zuwendung ihn stützen könnte, reist, obwohl er bei jedem Besuch an einem Asthma-Anfall erkrankt, jede Woche wieder zu seiner Mutter, setzt Verhaltensweisen fort, von denen er weiß oder ahnt, daß sie sein Leben erheblich abkürzen (Sucht, Drogenabhängigkeit). Eine Erklärung liegt darin, daß das selbstschädigende Verhalten dazu dient, Situationen zu erleichtern, die noch unangenehmer sind (Schuldgefühle). Weiter spricht sich im Wiederholungszwang die Neigung des Unbewußten aus, von den Entwicklungs- und Ab-nützungs-(Vergessens-)Vorgängen im Ich unberührt zu bleiben. Der lebensfeindliche Zug des Wiederholungszwangs, der Freud zur Annahme eines sich darin aussprechenden Todestriebes führte, erklärt sich möglicherweise daraus, das die betreffenden Erscheinungen nicht individuell (dem Überleben des einzelnen dienend), sondern artbezogen gesehen werden müssen. Wenn der Wiederholungszwang tatsächlich meistens die Situation der Unzufriedenheit und Kritik der Eltern oder anderer Bezugspersonen der Primärgruppe am Kind in mehr oder weniger verschlüsselten Formen wiederherstellt, so drückt sich darin die zentrale Bedeutung der Sozialisation für den Menschen aus. Es diente während der entscheidenden Zeitabschnitte der menschlichen Entwicklungsgeschichte dem Überleben der Art des «Kulturtiers» Mensch, wenn die frühen Gefühlsbeziehungen in der Familie (der Ödipuskomplex und seine Vorläufer) so nachhaltig aufgenommen und verinnerlicht wurden, daß eine Veränderung im späteren Erwachsenenleben nur unter großer Mühe und oft gar nicht möglich ist. Die begleitende Gefahr, auf diese Weise auch ungünstige, nicht nährende, sondern zerstörerische Gefühlsbeziehungen zu verinnerlichen, mußte von den Baumeistern der menschlichen Entwicklung (Mutation und Auslese) in Kauf genommen werden.

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