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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Fehler

Autor
Autor:
Klaus-Dieter Zumbeck

Fehler als alltäglicher Begriff

Fehler sind alltägliche Ereignisse und eine der Hauptquellen des Lernens. Kleinkinder erlernen grundlegende Prozesse aus Fehlern und tätigkeitsintrinsischen Rückmeldungen, z.B. das Umfallen beim Laufen. Der Versuch, eine Schraube verkehrt herum festzuziehen, wird ebenfalls aus der Tätigkeit selbst heraus, als "Fehler" zurückgemeldet (Feedback). In sozialen Situationen werden Fehler, z.B. in Prüfungen, Klassenarbeiten, Gesprächen, meist durch einen Kommunikationspartner zurückgemeldet, also deutlich gemacht. Die Bemerkungen von Lehrern, Prüfern oder Gesprächspartnern machen den Erfolg der Handlungen deutlich. In anderen Fällen jedoch ist die Rückmeldung deutlich verzögert. Entscheidet man sich zur dauerhaften Partnerschaft, dafür oder dagegen Kinder zu zeugen oder für eine bestimmte Berufsausbildung, so kann das Erkennen davon, ob dies ein Fehler war, erst sehr viel später eintreten. Erschwert wird diese Situation dadurch, daß die Entscheidung ursprünglich auch hätte korrekt sein können, wären nicht im Laufe der Zeit und der Ereignisse unvorhergesehene oder bewußt tolerierte Veränderungen aufgetreten. Entscheidet man sich beispielsweise dazu, eine Regelverletzung bewußt einzugehen, z.B. indem man eine rot anzeigende Verkehrsampel nachts an einer Baustelle ignoriert, um einen Verletzten ins Krankenhaus zu bringen, so kann dies entweder als heroischer Rettungsakt oder als katastrophaler Fehler gewertet werden, je nachdem ob die notwendige Zeit erfolgreich eingespart wurde oder ein zeitverzögernder Unfall in der Baustelle passierte.

Besonders schwierig wird die Fehlerdefinition auch bei sogenannten Unglücksfällen. Bei Lebensmittelvergiftungen, Erdbeben, Infektionskrankheiten, etc. spricht man von Unglücksfällen, da zu einem Fehler nach Zapf, Frese und Brodbeck (1998) drei Kategorien erfüllt sein müssen: Fehler treten nur bei zielorientiertem Verhalten auf, sie bedeuten das Nichterreichen eines Zieles oder Teilzieles und sind potentiell vermeidbar. Diese Kriterien sind aber leider noch nicht hinreichend. Bei einer Verletzung als Folge eines Erdbebens kann man natürlich auch argumentieren, man hätte woanders leben oder Urlaub machen können, hätte das Ziel eines erholsamen Urlaubes verfehlt und hätte in der Situation andere zielorientiertere Verhaltensweisen wählen können. Dementsprechend unscharf sind die Grenzen zwischen Zufall, Fehler, Unglück, Sabotage oder einfach Ineffizienz. Freud (1904) führt in seiner Begrifflichkeit noch die Dimension der "Freudschen Fehlleistung" hinzu, in der von einer unbewußten Verursachungstendenz für einen Fehler bei den Sprechern oder Handlern ausgegangen wird (Fehlleistung). Ist eine unbewußte oder automatisierte Handlung, z.B. wenn man beim Gehen auf ebener Straße stolpert also eine Fehlhandlung? Ist der Systemabsturz am Computer durch eine ungewöhnliche Tastenkombination eine Fehlhandlung oder ein Glücksfall, weil dadurch ein Problem aufgedeckt wurde? Denn Fehler haben auch die positive Funktion, das Lernen zu beschleunigen und Systemschwächen aufzudecken.

Wie können nun psychologische Konzepte bei der Kategorisierung und Erkennung dieser Systeme helfen und wie kann sie das Auftreten von Fehlern oder deren negativer Konsequenzen verringern. Im technisch-wirtschaftlichen Kontext lautet die Frage, wie kann ich die Zuverlässigkeit der Maschinen, Akteure und des Gesamtsystems optimieren.



Fehlertaxonomien

Als besonders bedeutsam für das Verständnis und die Kategorisierung von Fehlern haben sich solche Taxonomien herausgestellt, die außer der situativen Handlungsbeschreibung auch die kognitiven und motivationalen Einflußfaktoren berücksichtigen (z.B. Rasmussen, Reason, Norman). Diese Autoren unterscheiden "slips" (richtige Idee, aber unzureichende Ausführung, z.B. ein Fehlpaß beim Fußball) und "mistakes" (fehlerhafter Plan, z.B. bei Fahrtzeiten im Pkw keinen Zeitpuffer für Staus einzurechnen).

Hacker (1998) und Rasmussen (1982) unterscheiden Fehler auf verschiedenen Ebenen der Handlungsregulation. Auf der untersten sensumotorischen, automatisierten Ebene werden Handlungsskripte, also überlernte Tätigkeiten ausgeführt (skill-based behaviour). Bei erfahrenen Autofahrerinnen erfolgt das Schalten, Blinken, etc. automatisch aufgrund bestimmter sensumotorischer Kopplungsmechanismen, bei Sekretärinnen wird so das Schreiben auf dem Keyboard oder der Schreibmaschine durchgeführt. Auf der nächsthöheren kognitiven Regulationsstufe, der perzeptiv-begrifflichen Ebene, werden gut beherrschte Tätigkeiten gesteuert, also regelhaftes, schematisches Verhalten durchgeführt (rule-based behaviour). Dies sind z.B. einfache Abbiegevorgänge an einer Straßenkreuzung oder das Öffnen eines Dokumentes auf dem Computer. Auf der höchsten Regulationsebene, der intellektuellen, strategischen Verarbeitungsstufe, werden komplexe oder neuartige Handlungen geregelt, also z.B. das Zurechtfinden in einer fremden Stadt, oder die Rettung eines Textes nach einem Computerfehler (knowledge-based behaviour). Als Regulationsbasis dient das Wissen, sowohl das prinzipiell verfügbare, als auch das situativ nutzbare. So kann man bestimmte Zusammenhänge wissen, aber nicht aus dem Langzeitgedächtnis (Gedächtnis) abrufen, oder aber den Zusammenhang oder die Fakten gar nicht kennen. Dörner (1989) und Zimolong (1990) führen weitere Fehlertypen auf .

Das folgende Beispiel verdeutlicht das Zusammenwirken verschiedener Fehler: 1997 verunglückte Lady Diana, Mitglied des englischen Königshauses, tödlich bei einem Verkehrsunfall. Auf der Fahrt von einem Hotel prallte ihr gepanzertes Fahrzeug mit hoher Geschwindigkeit auf einen Beton-Brückenpfeiler, so daß sie und mehrere Insassen starben. Bei einer Unfallanalyse traten u.a. folgende Fehler zu Tage. Der Fahrer war schon jahrelang in dieser Funktion tätig. Unmittelbar vor dem Unfall ist ihm ein Fehler auf der automatisierten Handlungsebene unterlaufen, da er offensichtlich die Gewalt über das Fahrzeug verlor. Auf der Fahrt selbst, ist ihm ein Einschätzungsfehler auf der Regelebene unterlaufen, da er die Gefahr im Verhältnis zu seiner eigenen Fähigkeit falsch einschätzte und glaubte, die Situation zu beherrschen. Vor der Fahrt ist ihm ein Fehler auf der strategischen Ebene unterlaufen, da er - trotz massiver, drogenbedingter Fahrtüchtigkeitseinschätzung, die - abgewägte Entscheidung traf, den Sohn des Hoteldirektors zu fahren, und dabei die Sensationsreporter abhängen zu können. Die Fehlentscheidungen lassen sich weiterverfolgen. Die Kollegen im Hotel begingen einen Auslassungs- oder Unterlassungsfehler, indem sie den Zustand des Fahrers nicht meldeten, oder sein Fahren unterbanden, der Hoteldirektor beging einen Gewohnheitsfehler, da er diese Umstände vermutlich schon längere Zeit, ohne Unfälle, geduldet hatte. Auch die Insassen begingen einen Fehler auf der Strategieebene, da sie die Priorität setzten, die Sensationsreporter abzuhängen und unzureichende Anweisungen zum Schutz ihrer Sicherheit trafen, vermutlich machten sie auch einen Gewohnheitsfehler, da sie sich auch während der Fahrt nicht gegen die drastisch überhöhte Geschwindigkeit widersetzten und zumindest zwei Insassen sich nicht anschnallten. Die Leibwächter begingen einen Zielsetzungsfehler in ihrer Schutzpflicht. Schließlich beging der Begleiter von Lady Diana als Sohn des Hotelinhabers auch noch einen Prognosefehler, indem er dem Mitarbeiter seines Hauses die entsprechenden Schutzanweisungen nicht gab.

Es steht zu vermuten, daß dann, wenn auch nur einer dieser Fehler konsequent vermieden worden wäre, der Unfall nicht passiert wäre oder nicht zu den tödlichen Folgen geführt hätte. Ein Fehlermanagementsystem würde hier also auf der organisatorischen Ebene im Hotel beginnen, auf der Gruppenebene bei Wettbewerbsprozessen auf der Fahrt und auf der individuellen Ebene bei der Verbesserung der Gefahren- und Fähigkeitseinschätzung sowie der kommunikativen Kompetenz, seine Prioritäten umzusetzen.



Fehlerbewältigung und Fehlermanagement

Der erste Schritt zur Bewältigung von Fehlern besteht aus der Analyse der Situation. Hier haben sich besonders Verfahren aus der Human Reliability Forschung bewährt. In diesen Verfahren werden die möglichen menschlichen Fehlerwahrscheinlichkeiten (HEP), die verhaltensbeeinflussenden Rahmenfaktoren (PSF), und die Konfidenzintervalle (UCB) in einer Human Reliability Analysis (HRA) gewichtet berechnet. Die Gewinnung der einzelnen Daten erfolgen aus der Streßforschung (z.B. Fehlerhäufigkeit unter Zeitdruck), der Ergonomie (z.B. Ablesefehler bei verschiedenen Instrumententypen), der Arbeitsgestaltung (z.B. Training von Gefahrenverhalten), der Organisationsgestaltung (z.B. Führungshierarchie in unklaren Situationen) und vielen weiteren Disziplinen. Zur expliziten Analyse, Vorhersage und Vermeidung von Fehlern nennen Zimolong und Trimpop (1993) die für Design-, Betriebs- und Ausnahmesituationen unterschiedlich günstigen Verfahren: Fault-Tree Analysis, THERP, SLIM, CIT, HEART, ASEP, MAPPS, SMART, MAUD, OAT, FMEA-diagrams, AUDITS, CREATE, CM, HCR, INTENT, SAINT, SHARP, etc., die alle anstreben, die Ursachen von Fehlern quantitativ und qualitativ zu benennen und zu vermeiden.



Erhöhung der menschlichen Zuverlässigkeit

Zur Vermeidung und Verringerung von Fehlern bzw. deren negativer Folgen gibt es verschiedene Ansatzpunkte. 1) Technikgestaltung: Hier können ergonomische Gestaltungskriterien (z.B. Bildschirmgröße, Raumtemperatur) aber auch Elemente der Maschinenzuverlässigkeit und Fehlertoleranz genutzt werden. Gerade im Bereich der Fehlertoleranz- und Fehlerrückmeldungstechnik werden im Mensch-Maschine Interface (z.B. Computerarbeit, Computer) ständig Fortschritte erzielt. 2) Arbeits- und Organisationsgestaltung: Perrow (1987) sieht die Begrenzung von Fehlerfolgen vor allem in der Planungsphase. Komplexe Systeme müssen demnach so entkoppelt gestaltet sein, daß im Falle eines Fehlers in einer Systemkomponente nicht das ganze System kettenreaktionsartig betroffen wird. Abläufe, Strukturen und Interaktionssyteme werden also systemorientiert konzipiert. 3) Personalqualifizierung: Sowohl in der Aus- und Weiterbildung, im Training und in Problemlösegruppen werden wichtige Grundlagen für die Vermeidung und Bewältigung von Fehlern geübt. 4) Systemsicherheitskultur: In diesem Ansatzpunkt sind die Interaktionen zwischen expliziten und impliziten Normen und Verhaltensregeln bezüglich Fehlern und Handlungszuverlässigkeit in einer Organisation subsummiert. Die Organisations-/Fehlerkultur sollte darauf ausgerichtet sein, aus Fehlern zu lernen, statt Sündenböcken Schuld zuzuschreiben. Fehler sind eine exzellente Lernquelle, wenn man sie entsprechend aufarbeitet und zur Systemgestaltung nutzt. In einigen Unternehmen wird das bereits beherrscht, wie das folgende Beispiel zeigt.

Ein Nachwuchsmanager in einem Konzern der Elektronikbranche hatte einen wichtigen Auftrag "vermasselt" und wurde zum Vorstand berufen. Um den unerwarteten unangenehmen Konsequenzen die Schärfe zu nehmen, fragte der junge Mann direkt, ob man mit ihm über einen Auflösungsvertrag sprechen wolle, woraufhin der Vice President antwortete: "Junger Mann, glauben Sie denn, wir ließen sie jetzt so einfach gehen, nachdem wir gerade 2 Millionen Dollar in Ihre Ausbildung gesteckt haben ?"

Literatur

Dörner, D. (1989). Die Logik des Mißlingens. Stuttgart: Rowohlt.

Freud, S. (1904). Zur Psychopathologie des Alltagslebens.

Perrow, C. (1984). Normal Accidents: Living with high High- Risk Technologies. New York: Basic Books.

Rasmussen, J. (1982). Human errors: a taxonomy for describing human malfunction in industrial installations. Journal of Occupational Accidents, 4, 311-335.

Zapf, D., Frese, M. & Brodbeck, F.C. (1999). Fehler und Fehlermanagement. In C.Graf Hoyos und D. Frey (Hrsg). Arbeits- und Organisationspsychologie. S. 398-411.Weinheim: Beltz, Psychologische Verlags Union.

Zimolong, B. (1990). Fehler und Zuverlässigkeit. In C. Graf Hoyos & B. Zimolong (Hrsg.), Ingenieurpsychologie (Enzyklopädie der Psychologie, Band D, III, 2, S. 313-345. Göttingen: Hogrefe.

Zimolong, B. & Trimpop, R. (1993). Managing human reliability in advanced manufacturing Systems. In G. Salvendy & W. Karwowski (Eds.), Human factors in advanced manufacturing systems (Chapter 15). New York: John Wiley & Sons.

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