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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Hysterie

Autor
Autor:
Anneliese Widmann-Kramer

im weiteren Sinne: eine Neigung mancher Menschen, ihre Gefühle in einer übersteigerten Form zu äußern, mit einem Pathos wie auf dem Theater. Solche Menschen scheinen ständig eine Rolle zu spielen, und oft inszenieren sie gerade die Konflikte, die sie in ein neues Leiden treiben. So stellen sie sich als leidenschaftlich, sensibel, als großartig, aber auch immer wieder als Opfer dar. Auf diese Weise wollen sie Beachtung, Bewunderung, Schonung und Mitleid erzwingen. Das wissen sie selbst nicht, denn sie leiden ja wirklich unter ihren Gefühlsschwankungen und Ausbrüchen. Sie kennen nicht die Muster ihrer Rollen, die meist auf frühe Erfahrungen zurückgehen, die nun in einem ständigen Wiederholungszwang neu herausgefordert werden. Sie erleben zwar, daß die Menschen, die sie durch ihr »Theater« beeindrucken wollen, unter ihrem Verhalten schwer leiden und sich schließlich eher von ihnen abwenden; aber sie wissen sich diese Wirkung nicht zu erklären und klagen ihr Schicksal an, das doch in ihrem eigenen Unbewußten verankert liegt. Im engeren Sinne bezeichnet das Wort »Hysterie« eine psychische Krankheit, die sich in Symptomen einer körperlichen Krankheit äußert, ohne daß physiologische Störungen vorliegen. Der Name geht auf das griechische Wort hystera = Gebärmutter zurück, denn früher hielt man die Hysterie für ein rein weibliches Leiden. Als Charcot und nach ihm Freud bewiesen, daß es auch hysterische Männer gibt, reagierten die zeitgenössischen Ärzte mit Unglauben und Empörung. Freud entdeckte dann in Symptomen der Hysterie eine Darstellung sexueller Wünsche, die als verboten verdrängt worden waren. Seither ist die »klassische« Hysterie so gut wie verschwunden. Sie war eine Tarnung der Sexualität, die nun durchschaut worden war, sodaß sie als Tarnung eben nicht mehr taugt. Dieser indirekte Einfluß der Psychoanalyse auf die Ausdrucksform seelischer Störungen wird nicht zuletzt dadurch erwiesen, daß Fälle von echter Hysterie noch immer in zurückgebliebenen, ländlichen Gegenden oder unter niederen sozialen Verhältnissen vorkommen, also überall dort, wo sich die Aufklärung der Hysterie »noch nicht herumgesprochen« hat. Anstelle der Hysterie sind weitgehend die psychosomatischen Krankheiten getreten, in denen sich der Konflikt zwischen Trieb und Moral nicht so leicht erkennen läßt.Form der Neurose vom griechischen hysteron = Gebärmutter abgeleitet (eine im Altertum geläufige Erklärung der Hysterie besagte, daß bei diesen Kranken - immer Frauen -die Gebärmutter im Körper herumkrieche und bald dieses, bald jenes Organ befalle). Vor allem der Psychoanalyse ist die Einsicht zu danken, daß die Hysterie eine in unbewußten, seelischen Konflikten wurzelnde Krankheit ist. Die früheren körperlichen Erklärungen erwiesen sich als ebenso unbegründet wie die Vermutung einer angeborenen Nervenschwäche. Die Krankheitszeichen (Symptome) der Hysterie sind sehr vielgestaltig; Dämmerzustände, Wahnvorstellungen, Epilepsie-ähnliche Anfälle, Wein- und Schreikrämpfe (die sich stets nur in Gegenwart anderer Personen ereignen), Störungen verschiedener Sinne (Blindheit, Taubheit), Lähmungen, Zittern, Nicht-stehen- und Nicht-gehen-Können gehören zu ihnen, ebenso auch Beschwerden, die bekannten körperlichen Krankheiten ähneln (Herzanfälle, Magenleiden, Gallenkoliken).

Hysterie und «eingebildete» Krankheit. Im allgemeinen Sprachgebrauch nennt man «hysterisch» abschätzig ein Verhalten, in dem Schmerzen, Erlebnisse, Gefühle unserem Gefühl nach übertrieben ausgedrückt und «vorgezeigt» werden (demonstratives Verhalten, Sich-zur-Schau-Stellen). Man spricht auch von «eingebildeten Kranken» und meint damit Menschen, denen trotz ihrer eindrucksvollen Leidensschilderungen «in Wirklichkeit nichts fehlt». Hier ist es nötig, zwischen Hysterie und Simulation zu unterscheiden. In der Hysterie empfindet der Kranke wirklich die Schmerzen seines Leidens, und er drückt sie so deutlich aus, um die Zuwendung seiner Umwelt zu erhalten, die ihm häufig in der Kindheit fehlte, oder die er damals nur mit ähnlichen Mitteln erreichte. In der Simulation wird eine Krankheit bewußt vorgetäuscht. Zum Beispiel um sich der Wehrpflicht zu entziehen. Gelegentlich kann zur hysterischen ~» Neurose noch eine Simulation hinzutreten, wenn der Kranke nach dem Motto «Mir glaubt ja sonst doch keiner» bewußt zusätzliche Einzelheiten erfindet, um eine an sich in unbewußten Motiven wurzelnde Situation glaubhaft zu machen. Ursachen. Nach der Psychoanalyse wurzelt die Hysterie in Verdrängungen aus der Zeit des Ödipuskomplexes (Alter von drei bis sechs Jahren). Wenn diese Urverdrängungen durch seelische Konflikte des späteren Lebens (vom Beginn der Pubertät an) erneut belastet werden, treten die Symptome als «fauler Kompromiß», als die Lebenstüchtigkeit beeinträchtigender Mittelweg auf. Gruppen-Aspekte. Hysterische Menschen tragen oft kindliche Entschlüsse (Transaktionsanalyse) in sich, die etwa so lauten: «Niemand hört auf mich, wenn ich nicht übertreibe», «Es ist sinnlos, sich anzustrengen, man muß Glück haben und den Augenblick genießen!» Diese inneren Formeln entsprechen einer Reaktion auf eine Familie, in der die Eltern launenhaft sind und von ihren Kindern verlangen, nach außen bestimmte Rollen zu spielen. Die Rolle des «Kranken» bietet sich an, wenn andere Möglichkeiten, genügend Geltung zu erlangen, verschlossen scheinen (häufig durch überhöhte Ansprüche an die eigene Person). Sie verbindet vermehrte Zuwendung von außen mit einem Schutz des Selbstgefühls («Ich wäre ja ein großer Künstler, aber weil ich krank bin...») und einer Selbstbestrafung, die das Über-Ich zufriedenstellt.

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