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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Narzißmus

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Autor:
Irene Roubicek-Solms

die Selbstliebe. Der Name geht auf die griechische Sage von Narkissos zurück, der die Liebe der Nymphe Echo verschmäht hatte und von ihr mit einem Fluch belegt worden war, sodaß er sich in sein Spiegelbild verlieben mußte, das ihm von der Oberfläche eines Gewässers entgegensah; er verzehrte sich nach diesem unerreichbaren »Partner« solange, bis er in eine Narzisse verwandelt wurde. Vier Männer und eine Frau in einer Irrenanstalt, die in wahrhaften sexuellen Beziehungen zu ihrem Spiegelbild oder ihrem eigenen Körper standen, führten den Psychiater Paul Naecke 1899 dazu, den Begriff »Narzißmus« zu prägen. Aber eine so ausschließlich ich-bezogene Liebe ist nur das krankhafte Extrem einer Stre bung, die jedem Menschen eingeboren ist. Das egoistische Verlangen nach Lust ist sogar das ursprüngliche Stadium der Libido, der (im weitesten Sinne) sexuellen Triebkraft. Freilich kann das ganz kleine Kind noch nicht sicher zwischen sich und der nächsten Umwelt, insbesondere der Mutter, unterscheiden. Es muß erst erfahren, daß ein Teil seiner Lust wie seiner Geborgenheit von einem zweiten, selbständigen Menschen abhängt, zu dem es eine Beziehung herstellen muß, um die Befriedigung seiner Bedürfnisse zu erreichen. Doch nicht immer ist diese fremde Quelle der Zuwendung erreichbar, und so verschafft sich das Kind am eigenen Körper Lust. Das Saugen an der Mutterbrust wird durch das Saugen am eigenen Körper ersetzt. Bei dessen neugieriger Erforschung entdeckt das Kind die erogenen Zonen, die ihm besonders intensive Lust verschaffen, unter ihnen vor allem die Genitalien. Das Spiel an ihnen wird zum Beginn und Vorbild jeder sexuellen Selbstbefriedigung (Onanie oder Masturbation). In dieser Rücckehr zum Narzißmus scheint sich das Kind unabhängig gemacht zu haben. Aber die Autonomie hat ihre Mängel. Es ist, als müßte sich das Kind fragen: Warum kann ich mich nicht selbst küssen? So drückte es Freud aus, der 1914 die Bedeutung des Narzißmus im seelischen Kräftespiel aufzeigte. Damit hatte die alte Gegenüberstellung zwischen Hunger und Liebe, zwischen den Trieben der Selbsterhaltung und der Arterhal tung, zwischen Egoismus und Sexualität ihre (vermeintliche) Schärfe verloren. Der Narzißmus wird als das erotische Äquivalent des Egoismus erkennbar. Anders ausgedrückt: man will sich selbst erhalten, weil man sich selbst das Liebste ist. Die Liebe zur eigenen Person ist ein Teil der Liebe insgesamt, des Eros als der Einheit der lebenserhaltenden Kräfte. Sie stehen insgesamt den zerstörenden Mächten entgegen, der Aggression, der Destruktion, dem Todestrieb, und zugleich vermischen sie sich mit ihnen. Die Verquickung von Narzißmus und Objekt-Liebe wird ganz deutlich bei der Liebeswahl nach dem »narzißtischen Typ«, das heißt, in der Suche nach einem Partner, der dem eigenen Wesen oder der Wunschvorstellung vom eigenen Ich irgendwie ähnelt.

Oft wechselt die Liebesbeziehung zu einem anderen mit einer Identifikation, also einer psychischen Einverleibung des anderen. Beide Arten des Verhältnisses können auch nebeneinander bestehen. Auf vielerlei Weise sucht man sich andere verständlich und zugänglich zu machen, indem man sie nach Vorbildern einschätzt oder umschaffen will, die aus früheren wichtigen Erfahrungen stammen, sozusagen ein Teil des eigenen Wesens geworden sind. Hierher gehören Muster wie das Imago und der Vorgang der Übertragung. Das Schwanken des Kindes zwischen der Sehnsucht nach Zuwendung eines anderen (etwa der Mutter) und der Unabhängigkeit mithilfe narzißtischer Befriedigung ist vorbildlich für das Verhältnis zwischen Objekt und Ich-Liebe. Enttäuschungen und Versagungen (Frustration) in dem Verlangen, die Liebe durch Gegenliebe erwidert zu sehen, führen zu einem Rückgriff (Regression) auf den ursprünglichen Narzißmus. Es ist, als würden mit der Objekt-Liebe Fühler ausgestreckt, die sofort zurückgezogen werden können, wenn sie nicht auf Gegenliebe oder sogar auf Abwehr stoßen. Zum anderen kann der Narzißmus genährt werden, wenn jemand erfährt, daß er von sehr vielen wegen seiner Schönheit, seines Charmes oder wegen anderer glänzender Gaben immer wieder bewundert und geliebt wird. Dann meint man, man brauchte sich nicht anzustrengen, vor allem nicht wiederzulieben. Diese Erscheinung ist häufig bei Frauen, die gleichsam von ihrer Schönheit leben. Viele von ihnen erscheinen den Männern als verlockende Sexualobjekte und werden doch die erotischen Hoffnungen enttäuschen, weil ihr Narzißmus sie für sexuelle Partnerbeziehungen weitgehend unempfänglich gemacht hat (Frigidität). Ähnlich anfällig für einen übersteigerten Narzißmus sind Männer, die irgendwie im Rampenlicht stehen. So sehr der Mensch erkennen muß, wie abhängig er von anderen ist, und daß er Zuwendung nur bekommen kann, wenn er gibt, so sehr ist doch auch eine Art Freundschaft mit sich selbst lebensnotwendig. Wer mit sich ständig im Hader ist, kann weder lieben noch leisten.

Selbstliebe, Wendung der Libido auf das eigene Selbst. Ausdruck der Psychoanalyse für einen Bereich des Erlebens, den man mit Selbstgefühl nur ungenügend kennzeichnen kann. Er schließt ein: 1. Den Aufbau des Selbst in der Kindheit, wobei unter Selbst das innere Bild des eigenen körperlich-seelischen Organismus zu verstehen ist. 2. Phantasien über ein großartiges, allmächtiges, eigenes Selbst und ein nicht klar von diesem getrenntes Selbst-Objekt (da in der frühesten Kindheit Selbst und Objekt nicht als verschiedene Einheiten erlebt werden). 3. In reiferen Formen Kreativität, Humor, Genießen der Natur (der Luft, des Wassers, der Landschaft in ihren das Selbst stützenden Eigenschaften). 4. Das Bedürfnis, mit idealisierten Menschen oder idealisierten Werten zu verschmelzen. Die normale Entwicklung des Narzißmus verläuft von unreifen Formen, in denen andere Menschen unbedingt gebraucht werden, um das narzißstischc Gleichgewicht zu erhalten (Abhängigkeit), zu reiferen Formen, bei denen die eigenen, inneren Werte und die verinnerlichten Objekte mit narzißtischer Libido besetzt werden. Diese Entwicklung wird dann gestört, wenn die frühen Bezugspersonen dem Kind nicht genügend narzißtische Bestätigung geben (der «Funken im Auge der Mutter», der das Da-Sein des Kindes bestätigend widerspiegelt). Das Kind wird nicht in seinem Da-Sein und damit seiner eigenständigen Entwicklung angenommen, sondern nur innerhalb der vom Narzißmus der Eltern bestimmten Vorstellungen («Der Junge muß einmal ein großer Schauspieler werden»). In der Psychoanalyse und Psychotherapie werden die Erforschung und Behandlung von Menschen immer wichtiger, deren Entwicklung gerade im Bereich des Narzißmus gestört ist.

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