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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Öffentliche Meinung

Autor
Autor:
Sonja Margarethe Amstetter





Begriffsbestimmung

Generationen von Wissenschaftlern haben sich mit dem Phänomen"öffentliche Meinung" befaßt und um eine Begriffsbestimmung bemüht. Das Ergebnis ist jedoch keine klare, allseits akzeptierte Definition, sondern eine unüberschaubare Fülle von Definitionen. In einer Abhandlung über die Bedeutung der öffentlichen Meinung, ihr Wesen und Zustandekommen hat Childs (1965) mehr als 50 Definitionen zusammengetragen, die aus soziologischen, politikwissenschaftlichen, ökonomischen, staatswissenschaftlichen und nicht zuletzt psychologischen Kontexten stammen. Sie alle hinterlassen den Eindruck, daß eine (transdisziplinäre) Einigung über Begriff und Phänomen der öffentlichen Meinung in weiter Ferne liegt. Was also ist öffentliche Meinung? In Befragungen verbinden zwar neun von zehn Befragten eine Vorstellung mit dem Begriff "öffentliche Meinung". Diese ist jedoch keineswegs einheitlich und reicht von Meinungsfreiheit bis hin zum Massenzwang. Die größte Übereinstimmung besteht mit einem guten Drittel der Nennungen in einem Bezug zu den Medien, der vielfach einhergeht mit der Vorstellung von Manipulation und Täuschung. Diese Auffassung von öffentlicher Meinung geht in ihrer Wurzel wohl auf die – insbesondere mit der Ausbreitung von Radio, Film und Fernsehen verbundene – zunehmende Bedeutung der Medien der Massenkommunikation zurück (Medienpsychologie). Damit lassen sich zwar die Vorstellungen von öffentlicher Meinung als einer – insbesondere durch die Massenmedien und die Psychologie der Überredung und Überzeugung – manipulierten und instrumentalisierten Größe beschreiben; das Phänomen selbst erklären sie nicht.



Funktionen

Die vorliegenden Definitionen öffentlicher Meinung lassen sich zumeist zwei Begriffsklassen zuordnen (Noelle-Neumann, 1992). Die eine Klasse begreift öffentliche Meinung als Korrelat zur Herrschaft mit der (manifesten) Funktion der kritischen Auseinandersetzung und Diskussion politischer Inhalte, die zur Meinungsbildung in der Demokratie beitragen und sich in rational erhärteten Urteilen zu Regierungsentscheidungen manifestieren. Die andere Klasse versteht öffentliche Meinung als soziale Kontrolle mit der (latenten) Funktion der Sicherung eines ausreichenden Grades an gesellschaftlichem Konsens über alle berührende Werte und Ziele, die sowohl vom einzelnen wie von den Regierenden respektiert werden müssen und damit, den Beteiligten nicht bewußt, zur Integration und Stärkung des Zusammenhalts beitragen (Elitekonzept versus Integrationskonzept). Die Unterschiede zwischen beiden Konzeptionen werden besonders deutlich im Verständnis des Begriffs "öffentlich". Im demokratietheoretisch-normativen Verständnis öffentlicher Meinung, das sich zur Zeit der Aufklärung herausgebildet hat, wird Öffentlichkeit als staatswissenschaftlich-juristische Kategorie begriffen. Diese bezieht sich auf die Inhalte öffentlicher Meinung, die Gegenstand des "öffentlichen Interesses" sind und allgemein zugänglich verhandelt werden. In diesem Sinne spricht man auch von "veröffentlichter" Meinung. Öffentlichkeit erscheint hier als ein auf das politische Gemeinwesen bezogenes offenes Kommunikationsforum für alle diejenigen, die etwas sagen oder das, was andere sagen, hören wollen.

Die Konzeption öffentlicher Meinung als soziale Kontrolle, die begriffsgeschichtlich bis in die Antike zurückreicht, begreift Öffentlichkeit hingegen als sozialpsychologische Dimension. Sie ist die Sphäre, in der man sich bewegt, in der man von allen beobachtet und beurteilt werden kann ("coram publico"); das Individuum empfindet diese Sphäre als bedrohliche Urteilsinstanz, der gegenüber es sich hilflos ausgeliefert fühlt. Öffentlichkeit wird hier als Bewußtseinszustand begriffen, der allen Menschen gemeinsam ist.

Eine der ersten explizit psychologisch ausgerichteten Arbeiten zur öffentlichen Meinung wurde von Hofstätter (1949) vorgelegt. Danach besteht die Funktion der öffentlichen Meinung vor allem darin, dem Individuum Verhaltensorientierung zu liefern und so den Spannungszustand der Ungewißheit abzubauen. Ermöglicht wird dies durch die Aneignung geprägter Formeln (Stereotype) insbesondere in jenen Fällen, wo relativ lebensnahe Fragen eine Stellungnahme erfordern, für deren Begründung eigene Erfahrungen und Einsichten nur in ungenügender Weise zu Gebote stehen. Hervorzuheben ist, daß die Aneignung dieser Formeln primär für den öffentlichen, der allgemeinen Wahrnehmbarkeit zugänglichen Bereich erfolgt, wo vom einzelnen eine Stellungnahme gefordert wird. Die Konzeption Hofstätters ähnelt in wichtigen Punkten der von Noelle-Neumann seit Mitte der sechziger Jahre entwickelten und in den siebziger Jahren formulierten Theorie der Schweigespirale (im Überblick: Noelle-Neumann, 1996). Diese geht von der Annahme aus, daß Menschen sich unablässig einen Eindruck über die Meinungsverteilung in der Gesellschaft bilden, um sich nicht durch abweichende Meinungen oder unpopuläre Ansichten von ihren Mitmenschen zu isolieren. Die These lautet, daß über beständige Umweltwahrnehmung und hierauf beruhenden Reaktionen öffentlicher Redebereitschaft oder Schweigetendenz Individuen und Gesellschaft miteinander verknüpft werden. Erklärt wird dieses Verhalten aus der sozialen Natur des Menschen, wie sie beispielsweise in den "Principles of Psychology" von William James (1890) beschrieben wird, wo es heißt, es sei überhaupt das Schlimmste, was einem Menschen widerfahren könne, wenn er von seinen Mitmenschen gemieden und wie Luft behandelt werde. Empirisch läßt sich die Furcht vor sozialer Ausgrenzung und Mißbilligung anhand des Peinlichkeitsempfindens operationalisieren. Bei kontroversen Themen neigen Menschen mit ausgeprägtem Peinlichkeitsempfinden deutlich mehr zum Schweigen als Menschen mit schwächer ausgeprägtem Peinlichkeitsempfinden. Zugleich wird deutlich – anders als es das Alltagsverständnis nahelegt –, daß peinliche Situationen weniger im kleinen Kreis, unter Freunden und Bekannten, als vielmehr besonders in anonymer Öffentlichkeit, unter Fremden als unangenehm empfunden werden.

Der Furcht vor gesellschaftlicher Mißbilligung als Antrieb für die wachsame Umweltbeobachtung (soziale Natur) wird die individuelle Natur mit dem Bedürfnis nach Selbstverwirklichung und Unabhängigkeit, mit den eigenen Neigungen und Überzeugungen, gegenübergestellt. Wie sehr einzelne den Anforderungen ihrer sozialen Natur nachgeben und die Bedürfnisse der individuellen Natur zurückstellen bzw. diese zu Lasten jener durchsetzen, hängt neben der Persönlichkeitsstruktur von zahlreichen weiteren Faktoren ab. So sind für den Spannungsausgleich beispielsweise auch die Stärke des Isolationsdruckes bedeutsam, das Ausmaß der Involviertheit in einer Frage oder auch gruppendynamische Prozesse. Der personalen Konfliktstruktur auf der Mikroebene der Individuen entspricht die soziale Konfliktstruktur auf der Makroebene der Gesellschaft. Diese ist ebenfalls auf einen fortwährenden Spannungsausgleich zwischen den verschiedenen Interessengruppen und Meinungslagern angewiesen, um handlungs- und entscheidungsfähig zu bleiben und ihre Funktionsfähigkeit zu sichern. Es hängt vom jeweiligen Grad der Gefährdung ab, ob der durch Isolationsdrohung ausgeübte Integrationsdruck hierbei stärker oder schwächer ausfällt. Ein höherer Grad von Gefahr verlangt immer nach einem höheren Grad von Integration, und höhere Integration wird erzwungen durch schärfere Reaktionen öffentlicher Meinung.



Gesellschaftliche Interaktion

Öffentliche Meinung wird somit begriffen als Prozeß und als Ergebnis gesellschaftlicher Interaktion. Ausgangspunkt ist die bei Menschen beobachtete Isolationsfurcht. Menschen neigen selbst dann dazu, dem Mehrheitsurteil zu folgen, wenn sie dieses Urteil als falsch empfinden und selbst ein ganz anderes Urteil für richtig halten. Die individuelle Isolationsfurcht und die gesellschaftliche Isolationsdrohung führen dazu, daß Menschen in der Öffentlichkeit unterschiedlich redebereit sind. Abweichende Meinungen geraten dadurch in den Hintergrund und werden, über die Zeit betrachtet, zunehmend schwächer vertreten. Vor allem in Gesellschaften, deren öffentliche Kommunikation überwiegend durch Massenmedien geprägt ist, ergibt sich aus dieser Dynamik noch eine zusätzliche Komponente, denn die Medien stellen die größtmögliche Öffentlichkeit her. Durch die Massenmedien können die von den hier hauptsächlich zu Wort kommenden Eliten, Avantgarden und Journalisten vertretenen Anschauungen stärker erscheinen als sie tatsächlich sind. Wenn durch konsonante Berichterstattung in Zeitung, Radio und Fernsehen eine Minderheitenmeinung aufgrund der Medienöffentlichkeit als Meinung der Mehrheit erscheint, dann verfällt die tatsächliche Mehrheit in Schweigen bzw. reduziert ihre Redebereitschaft. Es kommt zum Phänomen der "schweigenden Mehrheit". Die Sichtbarkeit der Mehrheitsmeinung in der Öffentlichkeit wird immer geringer, so daß in einem Spiralprozeß des Redens und Schweigens die ursprüngliche Minderheitenmeinung, die von den Medien unterstützt wurde, zur Mehrheitsmeinung wird. Noelle-Neumann zufolge hat sich eine Schweigespirale gegen den Medientenor bisher nicht gefunden. Die Massenmedien stellen in diesem Prozeß nicht nur eine maßgebliche Quelle der Umweltbeobachtung dar, sondern erfüllen darüber hinaus eine Thematisierungs- und Artikulationsfunktion. Themen, die von den Massenmedien nicht berücksichtigt werden, werden ebenfalls in der Öffentlichkeit wenig beachtet und diskutiert. Die Medien verleihen den Menschen aber auch die Worte, mit denen sie einen Standpunkt in der Öffentlichkeit vertreten und verteidigen können. Ohne die Artikulations- und Argumentationshilfe der Medien verfallen Menschen in der Diskussion eher in Schweigen und sind damit "mundtot". Aus der psychologischen Klein- und Bezugsgruppenforschung lassen sich daher ebenfalls Anknüpfungspunkte zur Theorie öffentlicher Meinung herstellen. Die Bezugsgruppen und ihre Meinungsbildung dienen dabei sozusagen als Referenzgröße für die Meinungsbildung in der gesamten Gesellschaft. Soziale Normen und Weltwissen werden dabei über Konsens und Konflikt zu sozialen Repräsentationen verdichtet, die Menschen in verschiedenen Bezugsgruppen miteinander teilen. Wichtige Forschungsfelder der Bezugsgruppenforschung, z.B. das Verhältnis von Mehrheit und Minderheit, von in-groups und out-groups lassen Bezüge zur Theorie der Öffentlichen Meinung erkennen.

Literatur

Childs, H. L. (1965). Public opinion: Nature, formation and role. Princeton: van Nostrand.

Glynn, C. (1997). Public opinion as a normative opinion process. In B. Burleson (Hrsg): Communication yearbook, vol 20. Beverly Hills: Sage, S. 157-183.

Hofstätter, P. (1949). Die Psychologie der öffentlichen Meinung. Wien: Wilhelm Braumüller.

Noelle-Neumann, E. (1992). Manifeste und latente Funktion öffentlicher Meinung. Publizistik, 37, 283-297.

Noelle-Neumann, E. (1996). Öffentliche Meinung. Die Entdeckung der Schweigespirale. Frankfurt: Ullstein.

Price, V. (1992). Public Opinion. Newbury Park: Sage.


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