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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Hochschulpsychologie

Autor
Autor:
Katharina Weinberger

Gegenstand

Gegenstand der Hochschulpsychologie ist die psychologische Beschreibung und Erklärung von Prozessen der Erziehung und der Sozialisation, des Lehrens und Lernens im Kontext der Hochschule. Im Gegensatz zum angelsächsischen Sprachraum (Clark & Neaves, 1996) - und im Gegensatz auch zur etablierten Schulpsychologie - entwickelt sich die Hochschulpsychologie erst allmählich zu einem überschaubaren und eigenständigen Forschungsbereich (Viebahn, 1990; Helmke & Krapp, 1999). Um den Facettenreichtum der Hochschulpsychologie zu dokumentieren, gehen wir von den klassischen psychologischen Teildisziplinen aus und skizzieren einige Ansätze, die für den Hochschulbereich besonders bedeutsam und fruchtbar sind.



Lehren und Lernen aus allgemeinpsychologischer Sicht

In der Hochschulausbildung geht es schwerpunktmäßig um den Erwerb neuen Wissens. Die neueren kognitionspsychologischen Ansätze demonstrieren die Bedeutung des strategischen Umgangs mit Wissen, seine Integration in vorhandene kognitive Strukturen und deren Modifikation (conceptual change). Sie belegen, daß angesichts komplexer Wissensinhalte Wiederholungsstrategien zwar durchaus ihren Platz haben, daß aber erst einsichtsorientierte Informations- bzw. Wissensverarbeitung den nachhaltigen Erwerb von und den kompetenten Umgang mit Wissen fördert. Theorien des Wissenserwerbs unterstreichen die Bedeutung von Beispielen, Anschauung und Anwendung. Dies begünstigt nicht nur die Verankerung von Wissensbeständen in den kognitiven Strukturen, sondern erleichtert auch die Verfügbarkeit ("Abruf") des Wissens. Die psychologische Hochschulforschung ist reich an Beispielen für die Schwächen eines vorwiegend rezeptiven Lernens, das zu trägem Wissen führt, welches in realen Handlungssituationen nur schwer nutzbar gemacht werden kann; als überlegen haben sich Formen des situierten Lernens erwiesen, wobei das Wissen im Kontext von Problemlösungs- bzw. Anwendungszusammenhängen strukturiert wird. Das Lernen an der Hochschule unterscheidet sich vom schulischen Lernen dadurch, daß Studienwahl und Studieren in erheblichem Maße wesentlich interessenorientiert erfolgen. Zwar ist "intrinsisch" motiviertes Lernen, das dem Interesse an der Sache und dem Vergnügen am Vollzug von Tätigkeiten entspringt, nicht jederzeit und bei jedem Thema herstellbar. Doch es ist gut belegt, daß die subjektiv wahrgenommene Zuschreibung von Autonomie und Kompetenz, eine positiv erlebte soziale Umgebung, im übrigen auch der Enthusiasmus von Lehrenden, ebenso wie eine Didaktik der Problemorientierung (die Rätsel aufgibt, verfremdet und Neugier erzeugt) das Interesse fördern. Und Interesse ist wiederum eine günstige Bedingung für vertieftes Verständnis von Sachverhalten (deep approach vs. surface approach). Eine ausgeprägte intrinsische Motivation, die von Sachinteresse und im Extremfall sogar vom Interesse an der Tätigkeit selbst bis hin zum sogenannten Flu?erleben (d.h. einem selbstvergessenen Aufgehen in der Tätigkeit, "flow") gekennzeichnet ist, kann bei kreativem wissenschaftlichem Lernen und Arbeiten auftreten. Weiterhin ist ein stabiles Interesse, verbunden mit einem positiven Selbstkonzept der eigenen Leistungen und Fähigkeiten, eine wichtige Bedingung dafür, sich ausdauernd mit unbequemem, trockenem Lehrstoff zu befassen und vorübergehende Schwierigkeiten und Frustrationen zu meistern ("Persistenz"). Das heißt nun nicht, daß nicht auch "extrinsische" Motivierung, die auf positive oder negative Anreize setzt, durchaus erfolgreiche Lernprozesse initiieren kann.



Perspektive der Pädagogischen Psychologie

Reformen von Studium und Lehre zielen darauf ab, Lernbedingungen zu modifizieren und Lehr-Lernsituationen zu arrangieren. Das geschieht innerhalb wie außerhalb regulärer Lehrveranstaltungen, die sich auch als spezialisierte Lehr-Lernarrangements verstehen lassen. Lehrkompetenz ist dabei zweifellos eine wesentliche Einflußgröße. Unter pädagogisch-psychologischer Perspektive ist dabei insbesondere die Frage nach den Mechanismen des Lernens in Lehr-Situationen und nach Möglichkeiten seiner Optimierung durch Lehrprozesse von Interesse. Die zahlreichen Untersuchungen zum Vergleich von Lehrveranstaltungsformen (z.B. lecture vs. discussion groups vs. independent study, McKeachie, 1994) haben allerdings nicht zu eindeutigen Ergebnissen geführt. Produktiver ist es da schon, einzelne Variablen des Lehr-Lerngeschehens zu untersuchen, um einzelne Veranstaltungen bzw. didaktische Strategien in diesen Veranstaltungen zu optimieren. Überprüft wird dabei etwa, wie Feedback wirkt, Veranstaltungsmitschriften angefertigt werden, Visualisierungen als Lernhilfe dienen, Lesen effektiv gestaltet werden kann. Es ist davor zu warnen, nach dem generalisierten Typ des hervorragenden akademischen Lehrers zu suchen. Wie die Forschung zur schulischen Unterrichtsqualität belegt, können Lehrende auf verschiedene Weise "gut" sein, und es gibt vielfache Möglichkeiten der wechselseitigen Kompensation von Defiziten und Stärken. Dazu kommt, daß es oft auch von Persönlichkeitsmerkmalen und vom Vorwissen der Studierenden abhängt, welcher Lehr- und Unterrichtsstil "ankommt" und lernförderlich ist. Weitere wichtige pädagogisch-psychologische Themen sind: Bedingungsfaktoren des Studienerfolges bzw. des Studienabbruchs, Lernverhalten und Zeitbudget von Studierenden; auf institutioneller und instruktionaler Ebene die Wirksamkeit innovativer Ansätze (wie projektorientiertes Studium, fachübergreifendes Studium wie Studium integrale, fundamentale oder generale, Microteaching und Team Teaching; Handbuch Hochschullehre, 1996).



Entwicklungspsychologische Perspektive

Erst die entwicklungspsychologische Perspektive eröffnet den Blick auf Studieren als einen dynamischen Prozeß, der je nach Studiengang mit ganz unterschiedlichen Initiationsriten, Verlaufsstrukturen und Abschlüssen verknüpft sein kann. Diese Kontextbedingungen geben den Rahmen ab, in dem sich Lern- bzw. Studienbiographien mit all ihren Brüchen und Bewältigungsstrategien entfalten (insbesondere an den Nahtstellen von Hochschuleintritt/.-austritt, Übergang Schule - Universität) und mit tiefgreifendem Wandel von Einstellungen und Weltbildern einhergehen. Auf besonderes Interesse ist der Einstellungswandel von Lehramtsstudierenden gestoßen (Praxisschock, Konstanzer Wanne). Im Laufe des Studiums treten in verschiedenen Studienabschnitten unterschiedliche Orientierungen in den Vordergrund, wenn etwa einer Prüfungsorientierung am Studiumsende eine Sachorientierung in der Mitte des Studiums oder eine Sozialorientierung zu Beginn des Studiums gegenübersteht. Der Fortgang des Studiums läßt sich dann auch als ein Parcours von Entwicklungsaufgaben beschreiben, die von der sozialen Integration bis hin zur Bewältigung von Leistungsanforderungen reichen. Aus kognitiver Perspektive kann man von einer Entwicklungssequenz verschiedener Auffassungen von Wissen ausgehen: etwa von einer zunächst einfachen dualistischen Konzeption (Wissen ist entweder "richtig" oder "falsch") bis hin zur kritischen Bewertung der Gültigkeit und Reichweite des zu erwerbenden Wissens (Helmke, 1998).



Sozialpsychologische und ökologische Perspektiven

Die Zentrierung der Studienreform auf die Kreation von Lehr-Lernarrangements und ihrer Sequenzierung in Studiengängen läßt leicht außer acht, daß sich wichtige Einflüsse auf Lehren und Lernen nur in Kenntnis des institutionellen und organisatorischen Rahmens und der Einbettung in vorliegende Interaktionsstrukturen erklären lassen. Dieses Bedingungsgefüge läßt sich unter ökologischer Perspektive auch als Kultur beschreiben, in der sich Werte, Normen, Verhaltenserwartungen ausprägen und sich dann auf subjektiver Ebene Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster habitualisieren, die gruppenspezifische Charakteristika aufweisen. Ein bevorzugter Gegenstand der Forschung zur Hochschulsozialisation sind die differenten Fachkulturen, die sich entlang der Fächer bzw. Fächergruppen ausdifferenziert haben und jeweils prägende Lernumwelten für Studierende und Lehrende bilden. Letzlich erfordert dies eine kulturvergleichende Betrachtung der Lehr-Lern-Organisation und der ihr zugrundeliegenden Konzepte und Werthierarchien als auch der Bedingungsfaktoren der Leistungen und des Lernverhaltens. Seit den ersten Belegen einer deutlichen Überlegenheit von Schülern und Studierenden aus südostasiatischen Ländern (neuerdings wieder bei der TIMSS-Studie) gilt das Interesse vergleichenden Analysen des Lern- und Leistungsverhaltens von Studierenden dieser Regionen (Helmke & Schrader, 1999).



Differentialpsychologische Perspektive

Eine lediglich allgemeinpsychologisch ausgerichtete Perspektive vernachläßigt differentielle Gesichtspunkte. Die Vielfalt der Phänomene des Lehrens und Lernens an der Hochschule erschließt sich erst, wenn die Differenzen zwischen den Akteuren in Betracht genommen werden. Als produktiv hat sich etwa die Untersuchung unterschiedlicher Lernstrategien und -stile erwiesen. Eine wesentliche Rolle spielt etwa die Unterscheidung zwischen dem "deep approach", der das Lernen mit Hilfe elaborativer Methoden (z.B. Herstellen von Zusammenhängen, kritisches Hinterfragen, Suche nach Anwendungsbezügen) angeht und auf Verstehen abzielt - gegenüber einem "surface approach", der das Lernen eher auf das Einprägen und Reproduzieren von Fakten ausrichtet.



Klinisch-psychologische Perspektive

Hochschulen werden wegen der dort oft anzutreffenden Bedingungen - Vermassung, Anonymität, Orientierungsschwierigkeiten, Kommunikationsdefizite, unklare Leistungsanforderungen - gelegentlich als pathogene Institutionen bezeichnet, die persönliche Krisen auslösen und zu Überforderung im sozialen und im Lernbereich führen können. Die umfassenden regelmäßigen Untersuchungen etwa des Deutschen Studentenwerks haben einen erheblichen psychologischen Beratungs- und Unterstützungsbedarf aufgezeigt, der eine Vielzahl von klinisch-psychologischen Aufgabenstellungen deutlich macht. In der Praxis sind allerdings die derzeitigen Möglichkeiten der Psychologischen Beratungsstellen an Universitäten kaum ausreichend, um den bestehenden Bedarf zu decken (Beratung). Zudem herrscht eine zunehmende Kluft zwischen dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Psychologie und den in der Praxis entwickelten "Trainings" und "Therapien".



Ausblick

Gerade im deutschen Sprachraum erscheint es uns dringend erforderlich zu sein, die vorhandenen eklatanten Lücken zwischen dem Fortschritt der wissenschaftlichen Psychologie einerseits und dem Praxisfeld "Hochschule" andererseits zu schließen und dabei die noch vielfach vorherrschende, auf die "Schubladen" psychologischer Teildisziplinen beschränkte und bornierte Perspektive zu überwinden. Dies gilt für die Verbesserung der Hochschullehre und des Prüfungswesens in gleichem Maße wie für die Effektivierung des studentischen Lern- und Leistungsverhaltens und der Studienberatung. Dies erfordert nicht nur einen die Teildisziplinen der Psychologie übergreifenden Ansatz der Hochschulpsychologie, sondern darüber hinaus auch verstärkte interdisziplinäre Bemühungen, insbesondere Verknüpfungen mit Konzepten und Methoden der Hochschulpädagogik und der Bildungssoziologie.

Literatur

Clark, B. R. & Neave, G. R. (Hrsg.). (1996). The encyclopedia of higher education. Oxford: Pergamon Press.

Helmke, A. (1998). Hochschulsozialisation. In D. H. Rost (1998). Handwörterbuch Pädagogische Psychologie (S. 188-192). Weinheim: Psychologie Verlags Union.

Helmke, A., Krapp, A. (1999). Lehren und Lernen der Hochschule. Zeitschrift für Pädagogik.

Helmke, A. & Schrader, F.-W. (1999). Lernt man in Asien anders? Empirische Untersuchungen zum studentischen Lernverhalten in Deutschland und Vietnam. Zeitschrift für Pädagogik.

Helmke, A. & Schrader, F.-W. (1996). Kognitive und motivationale Bedingungen des Studierverhaltens: Zur Rolle der Lernzeit. In J. Lompscher & H. Mandl (Hrsg.), Lehr-Lernprobleme im Studium - Bedingungen und Veränderungsmöglichkeiten. Bern: Huber.

McKeachie, W. J. (1994). Teaching tips. Strategies, research, and theory for college and university teachers (9th edition). Lexington, Mass.: Heath and Company.

Raabe-Fachverlag für Wissenschaftsinformation. (1996). Handbuch Hochschullehre. Bonn: Raabe-Verlag.

Viebahn, P. (1990). Psychologie des studentischen Lernens. Ein Entwurf der Hochschulpsychologie. Weinheim: Deutscher Studienverlag.


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