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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Schulpsychologie

Autor
Autor:
Klaus-Dieter Zumbeck





Gegenstand

Schulpsychologie ist ein Berufsfeld von Psychologen im Kontext der Schule, keine eigenständige Disziplin der Psychologie. Bezugswissenschaften sind alle Teildisziplinen der Psychologie, je nach konzeptioneller Ausrichtung der Schulpsychologie, besonders Pädagogische Psychologie, Persönlichkeitspsychologie und Psychologische Diagnostik, Klinische Psychologie (Klinische Kinder- und Jugendpsychologie, Systemische Therapie, Beratung, Gesprächspsychotherapie, Gemeindepsychologie) und Arbeits- und Organisationspsychologie. Schulpsychologie hat auch zu dem gesamten Spektrum der Erziehungswissenschaften (Erziehungspsychologie), Soziologie und Teilbereichen der Medizin (Psychopathologie, Physiologie) ein Bezug. Idee und Begriff der Schulpsychologie gehen auf William Stern zurück, der 1911 auf dem ersten Kongreß für Jugendbildung und Jugendkunst in Dresden vorschlug, die Schule bei der Erfüllung ihres Bildungsauftrags durch Psychologen unterstützen zu lassen.



Geschichte

1922 nahm der erste Schulpsychologe in Deutschland seine Arbeit auf: Hans Lämmermann, ein Lehrer, der bei William Stern an der Universität in Hamburg für seine schulpsychologische Tätigkeit ausgebildet worden war. Er erhielt die Aufgabe, in Mannheim im Schulversuch “Förderklassensystem” die Eignung von Kindern für unterschiedlich hohe Anforderungsniveaus des Unterrichts zu diagnostizieren. Die Schulpsychologie entwickelte sich erst nach dem zweiten Weltkrieg in Deutschland weiter. Anlaß waren Verwahrlosung, unregelmäßiger Schulbesuch von Kindern und Jugendlichen nach dem Krieg, wie schon bei der Gründung der ersten Erziehungsberatungsstellen (Erziehungsberatung) nach dem ersten Weltkrieg in Wien durch Alfred Adler. 1948 wurde als Nachfolger der Behörde “Abteilung Schulpolizei” die “Schülerhilfe” gegründet, der zentrale schulpsychologische Dienst der Hansestadt. Entsprechend den damaligen aktuellen Problemen war dieser primär sozialpädagogisch und psychotherapeutisch am Einzelfall orientiert: Da die Kapazität der schulpsychologischen Dienste für die Interventionen bei problematischen Einzelfällen nie ausreichte, war die Individualdiagnose, verbunden mit Empfehlungen für Lehrer oder Eltern oder auch für institutionelle Maßnahmen (Sitzenbleiben, Schulwechsel, Besuch einer Sonderschule) lange die hauptsächliche schulpsychologische Tätigkeit.

In Hessen entstand eine andere Konzeption schulpsychologischer Arbeit. “Schularbeit als Ganzes” sollte durch die Schulpsychologie umgewandelt und verbessert werden – Schulpsychologie als “Systemberatung”. Die anderen Bundesländer richteten mit unterschiedlicher Intensität ebenfalls schulpsychologische Beratungsstellen ein, wobei in Nordrhein-Westfalen und in Bayern, anders als in den anderen Flächenstaaten, neben dem Land auch Kommunen schulpsychologische Dienste gründeten. Zu einem flächendeckenden Ausbau der Schulpsychologie kam es in den alten Bundesländern erst, nachdem 1970 der Deutsche Bildungsrat seinen “Strukturplan für das Bildungswesen” vorgelegt hatte, der Grundlage war für den Beschluß der Kultusministerkonferenz 1973 “Beratung in Schule und Hochschule”: Bis 1988 sollte für 500 Schüler eine Beratungslehrerstelle und für 5000 Schüler eine Stelle für einen Schulpsychologen eingerichtet werden. Diese Beratungsdichte wurde bisher aber nur in den Stadtstaaten erreicht. 1974 gab es in den alten Bundesländern 359 Schulpsychologen, 1990 waren es 879, eine durchschnittliche Relation von einem Schulpsychologen für 8.200 Schüler. In manchen Bundesländern war und ist diese Relation aber noch weit ungünstiger. In der DDR begann die Geschichte der Schulpsychologie 1973. Psychologen, meist Lehrer und Lehrerinnen, die sich an der Karl-Marx-Universität in Leipzig zum “Diplom-Pädagogen (Pädagogische Psychologie)” fortgebildet hatten, wurden in das “Pädagogische Kreiskabinett” aufgenommen. In diesem Rahmen brachten sie psychologisches Wissen in die Lehrerfortbildung ein und berieten Lehrerinnen und Lehrer über Fördermöglichkeiten für verhaltens- und leistungsauffällige Kinder. Heute gibt es in allen neuen Bundesländern schulpsychologische Dienste. Über die Beratungsdichte liegen noch keine systematisch erhobenen Daten vor. Schulpsychologische Dienste gibt es in allen Industriestaaten, aber auch in vielen Ländern der “dritten Welt”. Die Beratungsdichte ist in den meisten europäischen Ländern wesentlich höher als in Deutschland, z.B. 1 : 1.500 in Belgien, 1: 3.500 in Frankreich. Die wohl qualitativ und quantitativ beste Versorgung mit Schulpsychologen besteht in den skandinavischen Ländern. In der International School Psychology Association (ISPA) kooperieren Schulpsychologen aus 51 Ländern. Grundlage für die Zusammenarbeit ist ein Kongreß, der jährlich in wechselnden Ländern durchgeführt wird. Die ISPA setzte sich z.B. in der UNESCO mit Nachdruck und Erfolg für die internationale Konvention über die Rechte des Kindes ein.



Schulpsychologische Arbeitsfelder

Je nach Dienstvorschriften des Landes oder der Kommune, der spezifischen Kompetenzen der Schulpsychologen und dem personellen Ausbau des schulpsychologischen Dienstes (vom einzelnen Schulpsychologen, der den größten Teil seiner Dienstzeit unterrichtet, bis hin zu den zentralen kommunalen Einrichtungen wie z.B. dem “Zentrum für Schülerförderung, Bildungsberatung und Schulpsychologie” der Stadt Köln, in dem auf 25 Planstellen 34 ganztags oder teilzeitbeschäftigte Schulpsychologen tätig sind) werden unterschiedliche Kombinationen aus den schulpsychologischen Arbeitsfeldern mit jeweils besonderen Schwerpunkten angeboten .

Schulpsychologische Tätigkeiten sollen den Schülern zugute kommen, entweder durch direkte Arbeit mit den Schülern und ihren Eltern oder indirekt durch Einwirkung auf das Bildungssystem. In manchen Bundesländern gehört auch das Unterrichten zu den Aufgaben der Schulpsychologen. Eine wichtige Säule schulpsychologischer Arbeit ist die Einzelfallarbeit, die wegen der Probleme eines einzelnen Schülers erforderlich ist. Dazu gehören die schülerbezogene Diagnostik und die Diagnostik der Einbettung der Problematik in die Umwelt des Schülers, individuelle Fördermaßnahmen bis hin zur Therapie, die Beratung von Eltern und Lehrern und eventuell die psychologische Begründung von Schullaufbahnempfehlungen, sei es bei hochbegabten Kindern (Hochbegabung) oder bei Kindern, die den Anforderungen der von ihnen eingeschlagenen Schullaufbahn nicht entsprechen können. Mit Schülergruppen lassen sich Kompetenzen entwickeln, die durch den Fachunterricht nicht oder zu wenig abgedeckt werden (Konzentration, Strategien des Wissenserwerbs, soziale Kompetenzen wie gewaltfreie Interaktion und Teamfähigkeit, Streßbewältigung, Selbstsicherheit). Das überschneidet sich teilweise mit der Planung, Begleitung oder auch Durchführung von Präventionsprogrammen in der Schule (aktuelle Themen: AIDS, Gewalt, Schulangst). Viele Probleme haben Schülern auch deshalb, weil ihre Schule so ist wie sie ist. Aggressives Verhalten, Prüfungsangst, geringe Lern- und Leistungsmotivation, Wissenslücken, Sitzenbleiben, Konzentrationsprobleme, Ellbogenmentalität, Täuschen bei Prüfungen, Schuleschwänzen, Beenden der Schulzeit ohne Abschluß usw. entstehen in der Schule und teilweise auch durch sie. Primäre Prävention und auch Problemlösungen müssen deshalb in der Schule selbst ansetzen. Dazu dienen die schulpsychologischen Arbeitsfelder zur Optimierung des Bildungssystems. Die Erfahrungen aus der Einzelfallarbeit sind dabei hilfreich für die “Systemberatung” – als Beratung der Personen, die im System Schule tätig sind, um die Funktionsweise des Schulsystems zu optimieren. Diese Beratungsform wurde in der Schulpsychologie vor allem auf der Basis von Ansätzen der Organisationsentwicklung und der systemischen Psychologie eingerichtet.



Ausbildung

In Deutschland müssen Schulpsychologen in den meisten Bundesländern ein Diplomstudium in Psychologie und ein Lehramtsstudium absolviert haben. Während des Diplomstudiums wird der Anwendungsbereich Schulpsychologie in den Universitäten in Deutschland nur sehr randständig berücksichtigt. In Bayern wurde zur Ausbildung von Schulpsychologen 1978 das Studienfach “Psychologie mit schulpsychologischem Schwerpunkt” eingeführt. Es kann entweder grundständig im Rahmen eines Lehramtsstudiums als Hauptfach oder als nachträgliche Erweiterung der Lehrbefähigung von Lehrern studiert werden. Durch das grundständige Studium wird die Studienzeit für Schulpsychologen erheblich reduziert. Der Inhalt des Studiums sind alle Teildisziplinen der Psychologie. Eine frühzeitige Spezialisierung des Psychologiestudiums auf den Bereich Schulpsychologie ist international ebenso weit verbreitet wie die Weiterbildung von erfahrenen Lehrern zu Schulpsychologen.



Forschung

Schulpsychologische Fragestellungen werden vor allem von der Pädagogischen Psychologie untersucht. In anderen Teildisziplinen der Psychologie werden Schüler vor allem dann in die psychologische Forschung einbezogen, wenn Probanden ihres Alters für die Untersuchung von Fragestellungen gesucht werden, die eher aus psychologischer Theorieentwicklung als aus dem Beratungsbedarf im Kontext der Schule abgeleitet sind. Manche Forschungsprojekte sind jedoch von unmittelbarer Relevanz für die Schulpsychologie, wie z.B. Studien über die Determinanten des schulischen Lernerfolgs oder die Ursachen für das schlechte Abschneiden deutscher Schüler bei internationalen Leistungsvergleichen. Der Forschungsbedarf für die Schulpsychologie ist erheblich, weil die schlichte Übertragung von psychologischen Forschungsergebnissen auf den Kontext Schule zu spekulativ oder auch gar nicht möglich ist. Zwei Beispiele sollen das illustrieren: In der Wissenspsychologie konnten Strategien des Wissenserwerbs identifiziert werden (Wissen). Deren Anwendung kann aber nutzlos oder sogar dysfunktional sein, wenn Schüler bereits eigene Strategien entwickelt haben, die mit diesen Strategien unverträglich sind. In der Organisationspsychologie wird zwar das Thema “Organisationsdiagnostik” behandelt. Für die schulische Organisationsdiagnostik als eine Grundlage für die Systemberatung müssen aber die Methoden noch weiterentwickelt werden.



Zukunftsperspektiven

In Deutschland stagniert der Ausbau der Schulpsychologie seit Ende der 80er Jahre auf einem im Vergleich zu anderen Ländern sehr niedrigen Versorgungsniveau; ein weiterer Ausbau wäre erforderlich, wenn sie ihre Aufgaben erfüllen soll. Ein besonderer Beratungsbedarf besteht aktuell in jenen Bundesländern, in denen Schulentwicklung, Herausarbeitung des eigenen Schulprofils, Qualitätssicherung den Schulen zur Aufgabe gemacht worden sind. Die Schulpsychologie müßte sich wieder Tätigkeitsfeldern zuwenden, für die sie im Prinzip kompetent ist, die aber neueren konzeptionellen Überlegungen zur Systemberatung weichen mußten, die organisatorische Probleme in den Mittelpunkt der Beratung stellen. Dazu gehören insbesondere die Beratung zur Berufsfindung und die Lernerfolgsdiagnostik. Für die Beratung zur Berufsfindung, besteht ein großer Bedarf, der auch durch das Arbeitsamt nicht gedeckt wird, solange Schüler selbst noch nicht wissen, welchen Berufsweg sie einmal einschlagen wollen und wofür sie geeignet wären. Eine wichtige Aufgabe von Schulpsychologen wäre es, lokale Informations- und Beratungsnetzwerke mit anderen Beratungsdiensten aufzubauen und zu betreuen. Lernerfolgsdiagnostik muß wieder verstärkt Thema der Beratung und der Lehrerfortbildung werden, weil das etablierte Prüfungswesen in der Schule zu wenige Informationen erbringt, die benötigt werden, um das individuelle Vorwissen beim Wissenserwerb zu nutzen. Weitere wichtige Tätigkeitsfelder, die im Ausland bereits von Schulpsychologen ausgefüllt werden: Ausdehnung der Beratung auf den vorschulischen Bereich, die Beratung von Eltern, Lehrern und Schulen bei der Planung und Realisierung bei der wohnortnahen Integration von Schülern mit besonderem Förderbedarf, Identifikation von Hochbegabten, Intensivierung der Beratung für Kinder aus Zuwandererfamilien, Einsatz von Psychomotorik als Mittel der Diagnose und Intervention, Beratung bei Kindesmißhandlung und sexuellem Mißbrauch, Auswahl von PC-gesteuerten Medien für die individuelle Förderung unter psychologischer Perspektive

Literatur

Berg, D. (1993). Schulpsychologie in den "alten" Ländern der Bundesrepublik Deutschland, Entwicklung - Aufgaben - Perspektiven. In C. Hanckel & W. Gangnus (Hrsg.), Schulpsychologie heute - 1. Deutscher Psychologentag. Bonn: Deutscher Psychologen Verlag, 47-58.

Gutkin, T.B. & Reynolds, C.R. (eds.) (1990). The handbook of school psychology. New York: Wiley & Sons.

Käser, R. (1993). Neue Perspektiven in der Schulpsychologie. Handbuch der Schulpsychologie auf ökosystemischer Grundlage. Bern: Haupt.

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