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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Selbstpsychologie

Autor
Autor:
Julia Schneider-Ermer





Definition

Die Selbstpsychologie (auch: Psychoanalytical Self Psychology) ist eine von Heinz Kohut (1976) begründete Weiterentwicklung psychoanalytischer Konzepte des Narzißmus und des Selbst (Psychoanalyse). Das zentrale Anliegen der Selbstpsychologie ist die Bedeutung der Schicksale des Selbst und der damit verbundenen subjektiven, bewußten und unbewußten Kindheitserfahrungen. Danach ist die strukturierende Kraft der menschlichen Psyche das Bedürfnis, sich in einer kohäsiven Konfiguration, dem Selbst, zu organisieren und Beziehungen mit der Umgebung herzustellen, die die Kohärenz, Vitalität und Harmonie des Selbst fördern und die als Selbstobjekte konzeptualisiert werden. Als Denkrichtung stellt die Selbstpsychologie eine der großen psychoanalytischen Schulen der Gegenwart dar, die sich in ihren Konzepten einerseits den Strukturtheorien und andererseits den Objektbeziehungstheorien zuordnen läßt, weil für sie das psychoanalytische Verständnis der Beziehung zentral ist.



Klassische Auffassung

Kohut war zunächst Ich-psychologisch orientiert und entwickelte selbstpsychologische Vorstellungen für die Zweitanalysen von zumeist narzißtisch gestörten Analysanden, die mit der klassischen Technik nur mit unzureichendem Erfolg analysiert werden konnten. Neben der Entwicklungslinie der Triebe nimmt er eine davon unabhängige des Narzißmus an, mit einem Motivationsprimat des Selbst. Sexuelles und aggressives Verhalten werden danach nur dann für den therapeutischen Prozeß als vorrangig angesehen, wenn ein kohärentes, vitales, nicht fragmentiertes Selbst vorliegt. Das Selbst als tiefenpsychologisches Konzept bezieht sich auf den Kern der Persönlichkeit und besteht aus einer Konfiguration, die bipolar konzeptualisiert wird: Ambitionen und Ideale mit einem Zwischenbereich von Talenten und Fertigkeiten. Nach Lichtenberg (1989) entwickelt sich das Selbst als ein unabhängiges Zentrum für die Initiierung, die Organisation und die Integration der Motivationssysteme und der Erfahrung (Motivation). Im Zustand von Kohärenz, Harmonie und Vitalität ist das Selbst in seiner normalen Funktion allerdings nicht erfahrbar. Lediglich in Zuständen verminderter Kohärenz zeigt es sich in Form der Selbstobjektübertragung oder in pathologischen Manifestationen eines fragmentierenden Selbst (z.B. narzißtische Wut). Der methodische Zugang zum Zustand des Selbst erfolgt über Introspektion und Empathie. Wesentlichste den Selbstzustand beeinflußende Faktoren sind Selbstobjekterfahrungen, die in der klinischen Situation als Selbstobjektübertragungen manifest werden.



Ideengeschichtlicher Hintergrund

In der Einführung zum Narzißmus (1914) definiert Freud diesen als Entwicklungszustand, der durch die libidinöse Besetzung des Ich gekennzeichnet ist und den er zwischen Autoerotismus und Objektliebe ansiedelt (Triebtheorie). In Anlehnung an den Mythos versteht er unter Narzißmus die Liebe, die man dem Bild von sich selbst entgegenbringt. Der Begriff des Selbst wird von ihm ursprünglich nicht deutlich von demjenigen des "Ich" unterschieden, erst als er die Strukturtheorie entwickelt, ist das Selbst nicht mehr mit dem Ich gleichzusetzen. Hartmann unterscheidet das Selbst sowohl vom Ich als auch vom Objekt und spricht von einer Struktur, die alle Instanzen umfaßt und sich als Repräsentant der ganzen Person im Ich darstellt. Auch Winnicott (1951) betont die Zentralität des Selbst, um Leben zeitübergreifend verstehen zu können. Damit sich ein starkes Selbst entwickeln kann, ist für ihn eine hinreichend befriedigende Mutter-Kind-Beziehung notwendig, in der die Wünsche und Omnipotenz-Illusionen empathisch verstanden werden. In vieler Hinsicht kann Winnicott als Vorläufer für spätere Gedanken Kohut’s angesehen werden.



Erweiterungen, Differenzierungen und Modifikationen

Die Entfaltung und Differenzierung der Theorie und Praxis führte in der Selbstpsychologie mittlerweile zu verschiedenen Gruppierungen. Die "Intersubjektivisten" interessieren sich für den Zwischenbereich der Subjektivitäten von Patient und Analytiker, da sich die psychopathologischen Auffälligkeiten an dieser Schnittstelle herauskristallisieren. Die Vergangenheit eines Menschen betrachten sie als intersubjektive Beziehungsgeschichte zwischen Individuen und untersuchen vom Patienten hierzu entwickelte Konstruktionen. Eine andere wesentliche Erweiterung ist die Einteilung der Selbststörungen in Präemergenzstörungen, Konsolidierungsstörungen und Störungen der Lebenskurve sowie in primäre Störungen des Selbst (Psychosen, Borderline-Störungen, narzißtische Persönlichkeitsstörungen) und sekundäre Störungen des Selbst bei anderen Krankheitsbildern. Lichtenberg (1989) ergänzte die bestehende Therorie durch fünf Motivationssysteme (das System zur Regulation physiologischer Bedürfnisse, das System der Bindung und Zugehörigkeit, das explorativ-asservative System, das aversive System und das sensuell-sexuelle System).



Die Bedeutung des Begriffs in verschiedenen psychoanalytischen Schulrichtungen

Die Selbstpsychologie wird von anderen psychoanalytischen Schulrichtungen manchmal mit einer supportiven Psychotherapie gleichgesetzt. Zwar hat sie das grundsätzliche psychoanalytische Paradigma der Arbeit mit unbewußten Prozessen nie aufgegeben , aber bei der klinischen Arbeit mit Menschen, die an einer Störung des Selbst leiden, verschiebt sie den therapeutischen Fokus der analytischen Arbeit von intrapsychischen Konflikten auf Selbstobjekterfahrungen, die aus Defiziten in der Kindheit resultieren. Damit verlagert sich der Schwerpunkt weg von Sexualität und Aggression hin zu Sexualisierungen und Aggressivierungen im Dienste der Selbstkohärenz, was der Selbstpsychologie den Vorwurf der Konfliktscheu und der Triebferne einbrachte. Obwohl Kohut an der Zentralität der ödipalen Phase festhielt, betrachtete er den ödipalen Komplex nicht als schicksalhaft (Ödipus-Konflikt).



Interdisziplinäre Beiträge und Befunde

Die Selbstpsychologie bemühte sich in den letzten Jahrzehnten um Integration von Ergebnissen. Die neue Säuglings- und Kleinkindforschung ist vor allem von Lichtenberg (1989) in die Selbstpsychologie integriert worden und hat zur Entwicklung der funktional-motivationalen Systeme bei Lichtenberg und zur Konzeption eines systemtheoretisch begründeten Interaktionsmodells zwischen Mutter und Kind geführt, welches auf die Erwachsenenbehandlungen übertragen werden kann. Insofern ist die postkohutianische Selbstpsychologie angewandte Entwicklungspsychologie.

Die Ergebnisse der Bindungsforschung sind u.a. von Lichtenberg (1989) aufgegriffen worden. Z.B. hängen Bindung und idealisierende Selbstobjekterfahrung eng miteinander zusammen.

Slavin und Kriegmann (1992) stellen Verbindungen zwischen Evolutionstheorie und Selbstpsychologie her. Basch (1992) bezieht Vorstellungen der Neurowissenschaften und Kybernetik in die Selbstpsychologie ein. Meares (1995) integriert Ergebnisse der modernen Gedächtnisforschung. Er sieht die wesentliche therapeutische Aufgabe darin, invariante Organisationsprinzipien des Selbst wieder in den normalen Fluß bewußter Erinnerungen und damit in das episodische Gedächtnis zu integrieren.

Eine Zusammenfassung und Interpretation von Ergebnissen unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen geben – ausgehend von Konzepten des Selbsterlebens und der Motivation – Lichtenberg und Wolf (1997). Sie postulieren drei miteinander verbundene Zugangsweisen von Forschung, die sich mit dem Erleben befaßt: Beschäftigung mit dem Erlebenden (insbesondere dem Selbsterleben), Untersuchung von Erlebniskategorien, die von Selbstinteraktionen abstammen, Untersuchung von Erlebniskategorien, die von der subjektiven Matrix herrühren. Nach Köhler (1998) ist keine der bestehenden psychoanalytischen Schulrichtungen mit diesen neuen Forschungsansätzen und -ergebnissen so gut kompatibel wie die Selbstpsychologie.

Literatur

Basch, M.F. (1992): Practicing Psychotherapy. Basic Books: New York.

Freud, S. (1914). Zur Einführung des Narzißmus. GW 12.

Köhler, L. (1998) Das Selbst im Säuglings- und Kleinkindalter. In: Hartmann, H.-P., Milch, W., Kohut, H. (1976). Narzißmus. Eine Theorie der psychoanalytischen Behandlung narzißtischer Persönlichkeitsstörungen. Suhrkamp: Frankfurt a.M.

Lichtenberg, J.D. (1989). Psychoanalysis and motivation. Analytic Press: Hillsdale.

Lichtenberg, J.D., Wolf, E.S. (1997): General principles of self psychology: a position statement. J. Am. Psychoanal. Assn. 45: 531-543.

Meares, R. (1995): Episodic memory, trauma, and the narrative of self. Contemp. Psychoanal. 31: 541-556.

Slavin, M.O., Kriegmann, D. (1992): The adaptive design of the human psyche. Guilford: New York.

Winnicott, D.W. (1951). Übergangsobjekte und Übergangsphänomene. In D. W. Winnicott (Hrsg.), Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse (S. 300-319). Fischer: Frankfurt a.M.


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