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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Identität

Autor
Autor:
Anneliese Widmann-Kramer

das Gefühl, »mit sich einig zu sein«, oder auch, vollkommen in einer Rolle aufzugehen, die man in der Gemeinschaft zu spielen hat. Dieser Eindruck »das bin ich selbst« wird gestört durch äußere Zwänge, durch innere Hemmungen, durch Konflikte zwischen verschiedenen Strebungen oder in einer Umgebung, zu der man keine seelische Beziehung herstellen kann, so daß das Gefühl der Entfremdung entsteht. Oft ist es so schwierig, die Identität gegen die Widerstände der Umwelt zu wahren, daß der Mensch versucht ist, sie aufzugeben, etwa durch eine vollständige Anpassung, durch Flucht in einen Wahn oder Rausch. Immer wieder lehnt man sich durch Identifikation an andere an. In die verschiedenen Rollen, die dem Menschen in der Gemeinschaft zugeteilt werden, fügt man sich, indem man in ihnen Teile des eigenen Wesens ausdrückt, aber eben nur Teile, sodaß die volle Identität immer wieder infrage gestellt ist. Sehr auffällig wird das bei der Geschlechts-Identität, also der Einordnung eines Menschen als Mann oder als Frau. Unsere Begriffe von Männlichkeit und Weiblichkeit sind ja nur zu einem Teil durch die natürlichen Geschlechtsunterschiede bestimmt, die zwar das ganze Wesen durchdringen, es aber noch nicht festlegen. Wir richten uns vielmehr in unserem Urteil weitgehend nach Traditionen unserer Kultur, ja nach Vorstellungen einer bestimmten Gesellschaftsordnung und einer besonderen Gesellschafts-Schicht. Diese Vorstellungen machen gerade jetzt einen großen Wandel durch. Die überlieferten Geschlechtsrollen erscheinen nicht mehr verbindlich, neue Maßstäbe haben sich noch nicht durchgesetzt. So wird es schwierig, als Mann oder Frau eine Einstellung zu finden, die sowohl im Verhältnis zum anderen Geschlecht wie im Rahmen der Gesellschaft akzeptabel ist, und in der man zugleich mit sich selbst »einig« ist. Die Frage der Geschlechtsidentität ist überdies beispielhaft für die Schwierigkeiten, einen Teil des Wesens mit anderen Lebensaufgaben so übereinzustimmen, daß eine gleichsam einheitliche Identität empfunden werden kann.Gleichheit, Entsprechung; als Abkürzung von Ich-Identität (E. H. Erikson) das Gefühl einer Einheit zwischen Selbstbild, sozialer Aufgabe und Anerkennung durch bedeutsame Bezugspersonen, das dem Empfinden hinreichender Selbstverwirklichung entspricht.

Identität läßt sich als die Antwort auf die Frage verstehen, wer man selbst oder wer jemand anderer sei. Identität im psychologischen Sinne beantwortet die Frage nach den Bedingungen, die eine lebensgeschichtliche und situationsübergreifende Gleichheit in der Wahrnehmung der eigenen Person möglich machen (innere Einheitlichkeit trotz äußerer Wandlungen). Damit hat die Psychologie eine philosophische Frage aufgenommen, die Platon in klassischer Weise formuliert hatte. In seinem Dialog "Symposion" ("Das Gastmahl") läßt er Sokrates in folgender Weise zu Wort kommen: "... auch jedes einzelne lebende Wesen wird, solange es lebt, als dasselbe angesehen und bezeichnet: z.B. ein Mensch gilt von Kindesbeinen an bis in sein Alter als der gleiche. Aber obgleich er denselben Namen führt, bleibt er doch niemals in sich selbst gleich, sondern einerseits erneuert er sich immer, andererseits verliert er anderes: an Haaren, Fleisch, Knochen, Blut und seinem ganzen körperlichen Organismus. Und das gilt nicht nur vom Leibe, sondern ebenso von der Seele: Charakterzüge, Gewohnheiten, Meinungen, Begierden, Freuden und Leiden, Befürchtungen: alles das bleibt sich in jedem einzelnen niemals gleich, sondern das eine entsteht, das andere vergeht" (Platon 1958, 127f.).

Identität ist ein Akt sozialer Konstruktion: Die eigene Person oder eine andere Person wird in einem Bedeutungsnetz erfaßt. Die Frage nach der Identität hat eine universelle und eine kulturell-spezifische Dimensionierung. Es geht immer um die Herstellung einer Passung zwischen dem subjektiven "Innen" und dem gesellschaftlichen "Außen", also um die Produktion einer individuellen sozialen Verortung. Die Notwendigkeit zur individuellen Identitätskonstruktion verweist auf das menschliche Grundbedürfnis nach Anerkennung und Zugehörigkeit. Es soll dem anthropologisch als "Mängelwesen" bestimmbaren Subjekt eine Selbstverortung ermöglichen, liefert eine individuelle Sinnbestimmung, soll den individuellen Bedürfnissen sozial akzeptable Formen der Befriedigung eröffnen. Identität bildet ein selbstreflexives Scharnier zwischen der inneren und der äußeren Welt. Genau in dieser Funktion wird der Doppelcharakter von Identität sichtbar: Sie soll einerseits das unverwechselbar Individuelle, aber auch das sozial Akzeptable darstellbar machen. Insofern stellt sie immer eine Kompromißbildung zwischen "Eigensinn" und Anpassung dar. Das Problem der "Gleichheit in der Verschiedenheit" beherrscht auch die aktuellen Identitätstheorien.

Identitätstheorien

Für Erik Erikson besteht "das Kernproblem der Identität in der Fähigkeit des Ichs, angesichts des wechselnden Schicksals Gleichheit und Kontinuität aufrechtzuerhalten" (1964, S. 87). An anderer Stelle definiert er Identität als ein Grundgefühl: "Das Gefühl der Ich-Identität ist ... das angesammelte Vertrauen darauf, daß der Einheitlichkeit und Kontinuität, die man in den Augen anderer hat, eine Fähigkeit entspricht, eine innere Einheitlichkeit und Kontinuität (also das Ich im Sinne der Psychologie) aufrechtzuerhalten" (1966, S. 107). Identität wird von Erikson also als ein Konstrukt entworfen, mit dem das subjektive Vertrauen in die eigene Kompetenz zur Wahrung von Kontinuität und Kohärenz formuliert wird. Dieses "Identitätsgefühl" ist die Basis für die Beantwortung der Frage: "Wer bin ich?". So einfach diese Frage klingen mag, so eröffnet sie darüber hinaus komplexe Fragen der inneren Strukturbildung der Person. Die Konzeption von Erikson ist in den 80er Jahren teilweise heftig kritisiert worden. Die Kritik bezog sich vor allem auf seine Vorstellung eines kontinuierlichen Stufenmodells, dessen adäquates Durchlaufen bis zur Adoleszenz eine Identitätsplattform für das weitere Erwachsenenleben sichern würde. Das Subjekt hätte dann einen stabilen Kern ausgebildet, ein "inneres Kapital" (Erikson 1966, S. 107) akkumuliert, das ihm eine erfolgreiche Lebensbewältigung sichern würde. Thematisiert wurde auch seine Unterstellung, als würde eine problemlose Synchronisation von innerer und äußerer Welt gelingen. Die Leiden, der Schmerz und die Unterwerfung, die mit diesem Anpassungsprozeß gerade auch dann, wenn er gesellschaftlich als gelungen gilt, verbunden sind, werden nicht aufgezeigt.

Das Konzept von Erikson ist offensichtlich unauflöslich mit dem Projekt der Moderne verbunden. Es überträgt auf die Identitätsthematik ein modernes Ordnungsmodell regelhaft-linearer Entwicklungsverläufe. Es unterstellt eine gesellschaftliche Kontinuität und Berechenbarkeit, in die sich die subjektive Selbstfindung verläßlich einbinden kann. Gesellschaftliche Prozesse, die mit Begriffen wie Individualisierung, Pluralisierung, Globalisierung angesprochen sind, haben das Selbstverständnis der klassischen Moderne grundlegend in Frage gestellt. Der dafür stehende Diskurs der Postmoderne hat auch die Identitätstheorie erreicht. In ihm wird ein radikaler Bruch mit allen Vorstellungen von der Möglichkeit einer stabilen und gesicherten Identität vollzogen. Identität wird nicht mehr als Entstehung eines inneren Kerns thematisiert, sondern als ein Prozeßgeschehen beständiger "alltäglicher Identitätsarbeit", als permanente Passungsarbeit zwischen inneren und äußeren Welten. Die Vorstellung von Identität als einer fortschreitenden und abschließbaren Kapitalbildung wird zunehmend abgelöst durch die Idee, daß es bei Identität um "Projekt-entwürfe" geht oder um die Abfolge von Projekten, wahrscheinlich sogar um die gleichzeitige Verfolgung unterschiedlicher und teilweise widersprüchlicher Projekte. Bei seinem Versuch, das Wesen der Psychose zu erfassen, hat Manfred Bleuler eine passende Formulierung für die Passungsaufgaben von Identitätsarbeit gefunden: "Es geht im Leben darum, daß wir die verschiedenen, oft sich widersprechenden inneren Strebungen harmonisieren, so daß wir ihrer Widersprüchlichkeit zum Trotz ein Ich, eine ganze Persönlichkeit werden und bleiben. Gleichzeitig haben wir uns damit auseinanderzusetzen, daß unsere äußeren Lebensverhältnisse nie den inneren Bedürfnissen voll entsprechen, daß wir uns an Umwelt und Realität anzupassen haben" (1987, S. 18). Die Psychose ist für Bleuler ein Zeichen dafür, daß ein Subjekt vor der Anforderung kapituliert hat "die Harmonisierung seiner inneren Welt und seine Anpassung an die äußere Welt zu schaffen" (S. 18f.). Dieses Modell des Scheiterns zeigt im Umkehrschluß, was Identitätsarbeit im Sinne dieser kontinuierlichen Passungsarbeit zu leisten hat.

Aus soziologischer Sicht hat Anthony Giddens (1991, S. 74 ff.) zusammengefaßt, was Selbst- oder Identitätskonstruktion heute kennzeichnet: 1) Das Selbst wird zum reflexiven Projekt: "Wir sind nicht was wir sind, sondern was wir aus uns machen". 2) Das Selbst bildet eine entwicklungsmäßige Verlaufskurve. Im Entwicklungsgeschehen zwischen Kindheit und Zukunft wird deren innere Kohärenz durch die jeweilige Lebensspanne erzeugt. 3) Die Reflexivität des Selbst ist kontinuierlich und alles durchdringend: "Was geschieht gerade mit mir? Was denke ich? Was tue ich? Was fühle ich?" 4) Identität entsteht in einem narrativen Prozeß: "Ich erzähle mich selbst". 5) Selbstverwirklichung bedeutet die Schaffung persönlicher Zeitzonen, die bewußt gegen die äußere Zeit gesetzt werden. 6) Die Selbstreflexivität bezieht den Körper ein. 7) Selbstverwirklichung wird im Spannungsfeld von Chancen und Risiken verstanden. 8) Authentizität wird zum Leitfaden der Selbstverwirklichung. 9) Identität vollzieht sich in "Übergängen", die ohne gesellschaft-liche Stützrituale gelebt und gestaltet werden. 10) Die Verlaufskurve der Identitätsentwicklung ist unheilbar selbstreferentiell: Ich muß meine Lebenserzählung in sich stimmig präsentieren.

Identitätsarbeit und Identitätskonstruktion

Identität ist als konzeptioneller Rahmen zu verstehen, innerhalb dessen eine Person ihre Erfahrungen interpretiert und die jeweils die Basis bildet für die alltägliche Identitätsarbeit. Identitätsarbeit zielt darauf, ein individuell gewünschtes oder notwendiges "Gefühl von Identität" zu erzeugen. Voraussetzungen für dieses Gefühl sind soziale Anerkennung und Zugehörigkeit. Vor dem Hintergrund von Pluralisierungs-, Individualisierungs- und Entstandardisierungsprozessen ist das Inventar übernehmbarer Identitätsmuster ausgezehrt. Alltägliche Identitätsarbeit hat die Aufgabe, die Passungen, die Verknüpfungen unterschiedlicher Teilidentitäten vorzunehmen. Qualität und Ergebnis dieser Arbeit findet in einem machtbestimmten Raum statt, der schon immer aus dem Potential möglicher Identitätsentwürfe spezifische erschwert bzw. andere favorisiert, nahelegt oder gar aufzwingt. Qualität und Ergebnis der Identitätsarbeit hängen von den Ressourcen einer Person ab, von individuell-biographisch begründeten Kompetenzen über die kommunikativ vermittelten Netzwerkressourcen (Soziale Netzwerke) bis hin zu gesellschaftlich-institutionell vermittelten Ideologien und Strukturvorgaben. Die Konstruktion der individuellen Identität wird von Bedürfnissen geleitet, die aus der persönlichen und gesellschaftlichen Lebenssituation gespeist sind. Insofern konstruieren sich Subjekte ihre Identität nicht in beliebiger und jederzeit revidierbaren Weise, sondern versuchen sich in einem "Gefühl von Identität" in ein "imaginäres Verhältnis zu ihren wirklichen Lebensbedingungen" zu setzen (Althusser). Beim Herstellen dieser Identitätskonstruktionen werden zumindest "Normalformtypisierungen" benötigt (Identifikationen), Normalitätshülsen oder Symbolisierungen von alternativen Optionen, Möglichkeitsräumen oder Utopien. Der Identitätsbegriff vermittelt in spezifischer Verwendungsweise - zumindest unausgesprochen - den normativen Sollzustand "gelungenen Lebens". Gerade diese Konnotation hat ihn zugleich zum Gegenstand heftiger Kritik gemacht. Er wird von kritischen Sozialwissenschaftlern wie Adorno oder Foucault als Begriff einer ideologischen Versöhnung zwischen Subjekt und Gesellschaft gesehen, als gäbe es gelingendes Leben in einer Gesellschaft, die subjektive Lebenswünsche systematisch zerstört, entfremdet und beschädigt. Auch in der feministischen Kritik wird Identität als patriarchal bestimmte Zwangsfiguration für weibliche Subjektivität kritisiert (Feministische Psychologie). In diesen Kritikformen wird die oft "vergessene" Anpassungs- und Unterwer-fungsdimension in der Passungsarbeit zwischen Innen und Außen zum Thema und in dem Maße wie sie unausgesprochen bleibt, gibt sie dem Identitätsdiskurs eine ideologische Aufladung. Bei der Rekonstruktion der alltäglichen Identitätsarbeit müssen diese "Identitätszwänge", die aus ihnen folgenden subjektiven Verbiegungen und Beschädigungen ebenso aufgezeigt werden wie die zu gewinnende Handlungsfähigkeit.

Literatur

Bleuler, M. (1987). Schizophrenie als besondere Entwicklung. In K.Dörner (Hg.), Neue Praxis braucht neue Theorie. Gütersloh: Verlag Jakob van Hoddis (S. 18 - 25); Castells, M. (1997). The power of identity. Oxford: Blackwell.

Erikson, E.H. (1964). Einsicht und Verantwortung. Stuttgart: Klett.

Erikson, E.H. (1966). Identität und Lebenszyklus. Frankfurt: Suhrkamp.

Giddens, A. (1991). Modernity and self-identity. Cambridge: Polity.

Keupp, H. & Höfer, R. (Hrsg.) (1997). Identitätsarbeit heute. Frankfurt: Suhrkamp.

Kraus, W. (1996). Das erzählte Selbst. Die narrative Konstruktion von Identität in der Spätmoderne. Pfaffenweiler: Centaurus.

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