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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Risiko

Autor
Autor:
Julia Schneider-Ermer





Risiko – eine alltägliche Thematik

Nur selten wird uns bewußt, daß nahezu jede Alltagssituation eine Risikoaktion ist. Unsere Gesellschaft unternimmt einiges, um z.B. den Weg zur Arbeit, Schule und in die Freizeit sicher zu machen, und wir versichern uns gegen etwaige Gefahren. Die Forschung zeigt aber, daß wir mit Vorsicht nur auf wahrgenommene Gefahren reagieren und wir bei einem Gefühl von Langeweile Risikosituationen aufsuchen. Technische Sicherheitsmaßnahmen, z.B. breitere Straßen, Absperrungen, Beschleunigungsreserven, werden aus Zeitgewinn, Bequemlichkeit, Fehleinschätzung oder für einen Adrenalinkick ignoriert oder zur Geschwindigkeitserhöhung genutzt. Ohne die Motivation der Menschen – mit ihren Wahrnehmungen, Erfahrungen und ihrer Persönlichkeit – einzubeziehen, läßt sich Risikoverhalten nicht erklären.

Wir alle werden täglich mit diesem Wechselspiel aus Chancen und Gefahren in gesundheitlicher, finanzieller und sozialer Form konfrontiert. Einige Beispiele:

– In der letzten Generation wurde mit der hohen Mobilität durch den Straßenverkehr der bestehende Wohlstand maßgeblich mitgestaltet, allerdings zum Preis des Lebens von mehr als 200.000 Personen, also einer kompletten Großstadt.

– Nahezu jeder weiß um die Schädlichkeit des Rauchens, dennoch wird aus Lustgewinn oder Abhängigkeit entschieden, dieser Gewohnheit weiter aktiv nachzugehen.

– Der niedrige Preis für Warengüter fördert LKW-Fahrleistungen und -Unfälle, wodurch das ökologische System geschädigt wird.

– Die friedliche Nutzung der Kernenergie verspricht, eine umweltschonende Energiequelle zu sein, was aber spätestens seit der Tschernobyl-Katastrophe ins Gegenteil verkehrt wurde. Die derzeit finanziell günstigeren fossilen Energien tragen zur globalen Erwärmung bei und sind für erhöhtes Auftreten von Krebs- und Allergiekrankheiten mitverursachend.

– Finanzielle Risiken liegen in der wirtschaftlichen Optimierung von Unternehmen, die häufig primär einer Erhöhung des Aktiengewinnes dienen, aber Arbeitsplätze abbauen und die finanzielle Last auf die Allgemeinheit mit ihren Sozialsystemen (z.B. Frühverrentung) übertragen.

–Die Bereitschaft, ein offenes politisches Wort zu äußern oder gegen Mißstände in der Gesellschaft verbal einzutreten, birgt soziale Risiken, d. h., man kann Achtung von manchen und Ächtung von anderen Gruppen erfahren.

–Abenteuer- und Risikourlaube bzw. Freizeitaktivitäten, wie Mountain-Biking, Bungeespringen, Skifahren, Motorradfahren, Wanderungen durch Wüste/Eis/Urwald etc. bergen durch die Ungewißheit über die Ereignisse besonderen Reiz.

Welche psychologischen Erklärungsmuster stehen für diese Verhaltensweisen zur Verfügung, und wo sind mögliche Ansatzpunkte, um Risikoverhalten zu optimieren.



Risikokategorien und -taxonomien

Der Begriff Risiko stammt aus dem Altpersischen und bedeutet sinngemäß: “eine gefährliche Klippe umschiffen”. Er umfaßt alle Verhaltensweisen und Gegebenheiten, die eine Unsicherheit über den Ausgang und/oder die Konsequenzen haben, unabhängig davon ob das Ergebnis positiv oder negativ ist. Das Konzept des Risikos begleitet die Menschheit seit Anbeginn der aufgezeichneten Geschichte. Die Asipu in Mesopotamien zeichneten wahrscheinliche wirtschaftliche Konsequenzen von Gewinn und Verlust bereits 3200 v.Ch. in ihre Tontafeln ein. Die verschiedenen Optionen wurden dann mit Plus oder Minuszeichen gemäß der Risikogewichtung und Risikobewertung markiert. Zeitgleich wurden Versicherungen abgeschlossen mit Raten von 0–33% für Freunde und bis zu 200% für Fremde, die Güter nach Babylon transportierten. Im Codex des Hammurabi wurde schon 1950 v.Ch. eine explizite Risikoversicherung für Transport und Handel eingeführt. Solche Versicherungen hielten sich bis in die Neuzeit. Auch gegen den Einfluß der göttlichen Willkür wurden “Risikomanagementstrategien” gewählt, die von Opferungen über Rituale und Gebete reichen. Statistisch bedeutsame Auswertungswege wurden erst mit dem frühen 19. und dem letzten Jahrhundert geschaffen, mit denen Poissonsche Verteilungen, konkrete Wahrscheinlichkeitsvorhersagen und genaue Unfallhäufigkeiten aufgezeichnet und für die Berechnung von Chancen und Gefahren herangezogen werden konnten.

Eine Unterscheidungskategorie ist die zwischen subjektivem und objektivem Risiko. Objektiv ist die Wahrscheinlichkeit, an einem Kernkraftswerksunfall, an BSE oder bei einer Flugreise tödlich zu verunglücken, sehr viel geringer, als bei der alltäglichen Benutzung des PKW. Subjektiv dagegen erscheint einigen Menschen die Gefahr aus diesen fremdkontrollierten Risikobereichen viel drastischer als die Gefahren, die aus den Tätigkeiten resultieren, die sie selbst kontrollieren. Diese Unterscheidung wird besonders dann wichtig, wenn es um Regularien, Gesetze und die Kommunikation von Risiken geht. So ist die Giftigkeit und das Krebspotential von Asbest bereits seit 70 Jahren wissenschaftlich erwiesen, wurde aber erst um 1980 ins Risikobewußtsein der Allgemeinheit gerückt. Vorher war das Risiko objektiv gleich hoch, aber subjektiv für die Allgemeinheit nicht vorhanden.

Eine weitere Unterscheidungstaxonomie betrifft das individuelle Risiko gegenüber den gesellschaftlichen Risiken. Völlig ungeklärt sind z.B. die Chancen und Gefahren, die sich aus der Genforschung und ihrer wirtschaftlichen Nutzung ergeben. Sowohl physische Risiken durch Mutationen einerseits und verbesserte Krankheitsbekämpfung andererseits gehen in die Risikoabschätzung ein, wie die ethisch-sozialen Überlegungen, wann ein Mensch ein Mensch wird, wie mit Klonen umzugehen ist, oder ob es sich eine Gesellschaft wirtschaftlich leisten kann, von der Konkurrenz in diesem Zukunftsbereich überflügelt zu werden.

Perrow (1984) argumentiert, daß die Risiken moderner Großtechnologien nicht abschätzbar und kontrollierbar sind. Weder sei vorhersagbar, welche positiven Nebenprodukte entstehen, noch aus welcher Kombination von Fehlern Katastrophen erwachsen können. Er plädiert dafür, Großtechnologien grundsätzlich entkoppelt zu lassen, so daß Kettenreaktionen mit gesellschaftlich unabsehbaren Konsequenzen erst gar nicht entstehen können (Fehlerbaumanalyse, Mensch-Maschine-System, Neue Technologien, Technikpsychologie).

Als weitere Taxonomien seien hier die ausführlich erforschten Dimensionsunterscheidungen zwischen dem wahrgenommenen Schreckensausmaß einerseits und dem Bekanntheits-/Vertrautheitsgrad der Risiken andererseits. Eng verbunden sind auch die Unterschiede zwischen freiwilligem und unfreiwilligem Risiko gemäß des Grades der Kontrollierbarkeit (Slovic, Fischhoff & Lichtenstein, 1980).



Rahmenmodell für das Verständnis von Risikoverhalten

Die Bereitschaft Risiken einzugehen, hat uns evolutionäre Vorteile gebracht, um uns so früh wie möglich spielerisch auf ungewisse Situationen vorzubereiten, um zu beweisen, daß wir die stärksten, potentesten und passendsten sind, und um Einfluß auf eine sonst oft unbeeinflußbare Welt zu gewinnen. Viele Indizien aus der Tierwelt, aber auch aus der Entwicklungspsychologie, zeigen, daß junge Lebewesen unter dem Schutz der Eltern ihre Risikowahrnehmung, -einschätzung und ihr Risikoverhalten trainieren und optimieren. Die Fähigkeit, unter großen externen Bedrohungen und Unsicherheiten, handlungskompetent und reaktionsfähig zu bleiben, stellt einen evolutionären Vorteil dar und ist demnach wohl ebenso genetisch prädisponiert wie das Bedürfnis, Kontrolle über die Umwelt zu erlangen. Beides wird am Verhalten kleiner Kinder deutlich. Sie genießen es ebenso, -zig mal den Lichtschalter an- und auszuschalten, um eigenmächtig Licht zu schaffen, wie auf jedes noch so ungesicherte Bücherregal zu klettern.

In der Risikomotivationstheorie wird folgender Prozeßablauf postuliert: Zwischen den einzelnen Menschen und sogar innerhalb einer Person bestehen deutliche Unterschiede in der Risikobereitschaft. Diese ist von den jeweiligen Situationen, von den persönlichen Erfahrungen und von der Persönlichkeitsstruktur abhängig. Diese Komponenten geben bereits die Wahrnehmung jeder Risikosituation vor. Die anschließende Verarbeitung und Bewertung findet auf der physiologischen, emotionalen und kognitiv-rationalen Ebene statt. Wird eine Diskrepanz zwischen dem wahrgenommenen oder erlebten Risiko und dem erwünschten erfahren, so entsteht eine Motivation, diese Diskrepanz aufzulösen. Aus der Motivation erwächst ein Handlungsplan, der entweder automatisch über Skripte, regelhaft über Schemata oder bewußt überlegt, strategisch abläuft und in Handlungen mündet. Die Handlungskonsequenzen beeinflussen die Erfahrungen der Person, die Situation selbst, oder die Situationseinschätzung und stellen so die Grundlage für den fortlaufenden rekursiven Risikoprozeß dar (Handlung).

Der postulierte kompensatorisch-homöostatische Prozess wird von Wilde (1994) detailliert in Anwendungsbeispielen beschrieben, die klar zeigen, daß extern veränderte Risikowahrwahrnehmungen zu kompensatorischen Verhaltensadaptationen führen (z.B. breite, übersichtliche Straßen führen zu erhöhter Geschwindigkeit und verringerter Aufmerksamkeit) (Risikohomöostasetheorie).



Risikowahrnehmung, -bewertung, -kommunikation

Yates (1992) gibt einen Überblick über den Stand der Risikowahrnehmungsforschung und beschreibt die Vorurteile und Denkmuster, welche die Risikowahrnehmung und Entscheidung beeinflussen. Diese sind z.B. Glaube an Schicksal, Schutzengel, Astrologie, Überschätzung der Erfolgschance bei hohen Gewinnen, (Lotterien), Illusionäre Kontrolle oder Kompetenz, Wahrnehmungsfehler (z.B. große Objekte sind langsam), emotionale Verzerrung (depressive Menschen überschätzen Fehlschlagswahrscheinlichkeiten), Wortwahl, Gewohnheit, Aufmerksamkeit, Bedeutung des Ergebnisses (Attribution).

Rohrmann und Renn (2000) nennen als Zweck der Risikokommunikation die Identifizierung und Diskussion von unbekannten, kontroversen oder unklaren Risikoaspekten (z.B Genforschung), Einstellungs- und Wissensänderungen (z.B. BSE, AIDS), Verhaltensänderungen (z.B. Rauchen), gesellschaftliche Bewußtseinsschaffung (z.B. Umweltschutz), Präventionsbereitschaft (z.B. Impfungen) und Vorbereitung auf Katastrophen (z.B. Vulkanausbrüche). Sie zeigen ebenfalls deutliche interkulturelle Unterschiede in der Risikowahrnehmung und -bewertung auf. So werten Briten die Gefahren der Atomenergie beim Transport am höchsten, Ungarn bei der Betreibung der Kraftwerke und US-Amerikaner bei den Umweltfolgen. Deutlich wird bei allen Risikoprozessen, daß sie ein immanenter Lebensteil sind. Risikokommunikation fördert auch den kompetenten Umgang mit Risiken (Risikopotential, Kommunikation).

Im Bereich des Arbeits- und Gesundheits-, Brand- und Umweltschutzes sowie der Verkehrssicherheit und anderen Feldern, die sich mit der Abwendung von Gefahren beschäftigen, werden Risikomanagementsysteme erfolgreich eingesetzt. Risikokompetenzentwicklung hat das Ziel, Menschen in ihrer Risikowahrnehmung, -beurteilung und -verhaltenskompetenz so zu schulen, daß sie das für die Situation optimale Risiko auswählen und dann auch umsetzen können. “Wer nichts wagt, der nichts gewinnt” und “Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser” haben beide ihre Gültigkeit. Risikokompetenz bedeutet, die optimale Strategie zu nutzen.

Literatur

Cohen, M.M. (2001). Conquering Investment Risk in the Wall Street Garden of Eden. Flower Valley Press.

Perrow, C. (1984) Normal Accidents: Living with High-Risk Technologies. New York: Basic Books.

Rohrmann, B. & Renn, O. (2000). Risk perception research. An introduction. In: O. Renn & B. Rohrmann (Hrsg.), Cross-cultural risk perception. Dordrecht: Kluwer Academic

Trimpop, R.M. (1994). The Psychology of Risk-Taking Behavior. New York, Amsterdam: North Holland, Elsevier.

Zuckerman, M. (1979). Sensation Seeking: Beyond the Optimal Level of Arousal. Hillsdale: Lawrence Erlbaum.


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