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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Allgemeine Psychologie

Autor
Autor:
Katharina Weinberger

"Allgemeine Psychologie versucht, Erkenntnisse über menschliches Handeln und Erleben vor deren Betrachtung unter differentiellem, sozialem und Entwicklungs-Aspekt in generell gültige Aussagen zu bringen. Zu ihr gehören folgende Themenbereiche: Wahrnehmung, Bewußtsein, Denken, Urteilen, Kognition, Informationsverarbeitung, Sprache, Handeln, Sensomotorik, Emotion, Motivation, Lernen, Gedächtnis, Wissen." Dies ist eine autoritative Definition des Faches "Allgemeine Psychologie". Die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder der Bundesrepublik Deutschland hat sie sich auf Empfehlung einer überregionalen, mit Vertretern verschiedener Verbände besetzten Studienreformkommission Psychologie zu eigen gemacht (Kultusministerkonferenz, 1985, S. 14).

Allgemeine Psychologie und Spezielle Psychologien

Daß nach der Definition der Studienreformkommission Psychologie das Fach "Allgemeine Psychologie" drei speziellen Fächern vorgelagert sein soll, nämlich der Differentiellen Psychologie sowie der Sozialpsychologie und Entwicklungspsychologie, ist entweder didaktisch oder ontologisch zu verstehen. In didaktischer Hinsicht kann man Allgemeine Psychologie als Schnittmenge, d.h. als gemeinsamen Bestand der drei genannten Speziellen Psychologien betrachten. Vermittelt man im Unterricht diese Schnittmenge vorab, erspart man sich deren mehrfache Wiederholung in den drei Spezialfächern. Ontologisch betrachtet umfaßt Allgemeine Psychologie mehr als nur eine Schnittmenge. Entstanden ist der Begriff der Allgemeinen Psychologie jedenfalls aus dem ontologischen Verständnis. Die Schulphilosophie hat Ontologie als eigene wissenschaftliche Disziplin betrieben. Ontologie sollte eine Abstraktion der Wirklichkeit vornehmen, indem sie einerseits die Betrachtung auf das Wesentliche und Dauerhafte richtet, andererseits das als wesentlich und dauerhaft Erkannte nach Klassen, Gattungen u.ä. ordnet (Kremer, 1984). Psychologie wurde Teil der Ontologie, als sie die Aufgabe übernahm, jene Abstraktion im Bereich des Psychischen zu leisten. So bestimmte sie grundlegende und unverzichtbare Funktionen des Seelischen (Wahrnehmung, Gedächtnis u.a.), grenzte diese voneinander ab und zeigte deren Verbindung zu einem einheitlichen Seelenwesen.

Dem ontologischen Ansatz hat sich die Psychologie verpflichtet, als im 18. Jahrhundert unter der Vorherrschaft des Rationalismus ihr Aufstieg zu einer wissenschaftlichen Disziplin begann. Einschlägige Lehrbücher waren peinlich darauf bedacht, die Funktionen des Bewußtseins und des im Bewußtsein reflektierten Verhaltens abzugrenzen und zu ordnen. Die Beschreibung psychischer Funktionen sollte den menschlichen Geist in seiner Vollkommenheit darstellen, wie er in idealer Sicht dem Menschen als Gattung zukam. Die Beschreibung sollte somit über individuelle und kulturelle Eigenarten hinweg gelten; sie sollte das Abnorme (z.B. Wahnsinn, Verbrechen; abnorme Persönlichkeit) ebenso ausschließen wie das Unfertige (z.B. das Denken von Kindern und in sog. primitiven Völkern).

Mit dem Aufkommen der Romantik hat sich die Psychologie im 19. Jahrhundert grundlegend erneuert. Ziel wissenschaftlicher Erkenntnis war nach romantischem Wissenschaftsverständnis nicht mehr die überdauernde ideale Ordnung. Vielmehr interessierten die Vielfalt mit allen ihren Stärken und Schwächen sowie der Wandel von Individuen und Gemeinschaften, wie er sich bei deren Entwicklung unter verschiedenen ökologischen und kulturellen Bedingungen vollzog. Zudem machte aus romantischer Sicht nicht nur der Verstand die Seele des Menschen aus, sondern auch seine Empfindsamkeit und sein Gefühl, nicht nur das klare Erkennen und Wollen, sondern auch das dunkle Ahnen und Streben (Leib-Seele-Problem). Die vorher übergangenen psychischen Besonderheiten wurden daher in die wissenschaftliche Betrachtung einbezogen. Eigenarten der Kinder und der sog. Primitiven, Eigentümlichkeiten von Kulturen und von individuellen Charakteren sowie Erscheinungen jenseits der Normalität wurden zu bevorzugten Themen wissenschaftlicher Betrachtung. Spezielle Forschungszweige wie Charakterologie und Völkerkunde breiteten sich aus. Einen Teil von ihnen nahm die Psychologie in ihren Kanon auf. Für sie findet man die gemeinsame Bezeichnung "Spezielle Psychologien"; einige Autoren faßten sie unter der Bezeichnung "Vergleichende Psychologie" zusammen.

Der ontologisch orientierte Ansatz in der Psychologie verlor seine Ausschließlichkeit und erhielt zur besseren Unterscheidung von der "Vergleichenden Psychologie" bzw. den "Speziellen Psychologien" den Zusatz "generell" oder "allgemein". Im 20. Jahrhundert wurde die Trennung von Allgemeiner Psychologie auf der einen Seite und insbesondere Entwicklungs-, Persönlichkeits- und Sozialpsychologie auf der anderen zu einer der Selbstverständlichkeiten im Konzept der Psychologie als moderner Einzeldisziplin (Schönpflug, 2000).

Taxonomie psychischer Funktionen

Aufgrund ihrer ontologischen Tradition fällt der Allgemeinen Psychologie eine besondere Zuständigkeit für die Taxonomie psychischer Funktionen zu. Auch die Studienreformkommission hat eine solche Taxonomie in ihre Fachbeschreibung aufgenommen und von "Wahrnehmung" bis "Wissen" eine Reihe wichtiger Funktionen aufgezählt. In ihrer Breite entspricht die Aufzählung dem Inhalt bewährter Lehrbücher. Selbst die gegenwärtig im Erscheinen begriffene Enzyklopädie der Psychologie sieht für ihre fünfzehn der Allgemeinen Psychologie gewidmeten Einzelbände (ab 1983) kein Thema vor, das den von der Kommission abgesteckten Rahmen sprengt.

Taxonomien psychologischer Funktionen sind hierarchisch angelegt. Ihre Kategorien lassen sich jeweils auf höherer Ebene zusammenfassen, auf niedrigerer Ebene teilen. Zum Beispiel schließt der Begriff "Kognition" die Begriffe "Wahrnehmung" und "Denken" ein. So läßt sich die Taxonomie psychischer Funktionen durch mehrfache Teilung von Kategorien verfeinern. Zum Beispiel wird die Kategorie "Informationsaufnahme" oft in "Wahrnehmung" (d.h. dann Wahrnehmung von Gegenständen) und "Empfindung" (d.h. dann Sinnesempfindungen) geteilt. Diese Unterkategorien lassen sich weiter differenzieren (einerseits in "Raumwahrnehmung", "Zeitwahrnehmung", "Personenwahrnehmung" u.ä., andererseits in "Farbempfindungen", "Tonempfindungen", "Tastempfindungen" u.ä.). Über die folgenden in allgemeinpsychologischen Taxonomien regelmäßig vertretenen Funktionen gibt dieses Lexikon eingehender Auskunft: Denken, Emotion, Gedächtnis, Handlung, Kognition, Lernen, Motivation, Problemlösen, Sprache, Vorstellung bzw. Phantasie, Wahrnehmung, Wissen. Der Vertiefung dieser Darstellungen dienen weitere Stichworte wie Angst, Entscheidung, Fehler, Psychophysik, Zeiterleben, Zielsetzung.

Allgemeine Psychologie I und Allgemeine Psychologie II als Teilfächer

Das Reformwerk von 1985 hat in Deutschland die Allgemeine Psychologie in Form zweier Teilfächer I und II in den Diplomstudiengang eingeführt. Dies wurde mit dem Umfang des Faches begründet. Ungeachtet mehrerer Möglichkeiten, die Stoffmenge zu teilen, sind die meisten Ausbildungsinstitute in Deutschland dem Vorschlag der Studienreformkommission gefolgt, dem Teilfach Allgemeine Psychologie I die Schwerpunkte "Wahrnehmung, Kognition, Sprache", dem Teilfach Allgemeine Psychologie II die Schwerpunkte "Emotion, Motivation, Lernen" zuzuordnen (Kultusministerkonferenz, 1985, S. 14).

Zwischen den genannten Schwerpunkten verläuft eine Trennlinie, die gleichfalls bis in den Ursprung der Psychologie in der Philosophie zurückzuverfolgen ist. Auf der einen Seite der Trennlinie sind innerhalb der Philosophie Erkenntnistheorie und Logik angesiedelt. Psychologie hat, als sie sich im Rationalismus als Lehre vom Bewußtsein verstand, vor allem menschliches Erkennen und Urteilen zu ihrem Thema gemacht - die Fülle der Empfindungen, die Komplexheit der Wahrnehmung, die Ordnung der Begriffe, die Tiefe der Einsicht und die Reichweite von Schlußfolgerungen. Deren Wechselwirkungen mit Bedürfnissen, Emotionen und Tätigkeiten waren in der rationalistischen Psychologie randständige Themen. Dagegen waren Emotionen, Willensprozesse und Handlungen zentrale Themen der Morallehren (s. Schönpflug, 2000). Auf dem Höhepunkt des deutschen Idealismus hat Hegel (1830/1970, S. 229 ff.) in seiner für die Hochschullehre wegweisenden Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften der Psychologie die "Erscheinungen des subjektiven Geistes mit seinen Vermögen wie Vorstellen, Erinnern" als Gegenstand zugewiesen. Dabei trennte er den theoretischen Geist (Wissen und Erkennen) vom praktischen Geist (Wille und Gefühl).

Die gegenwärtig in Deutschland überwiegend eingerichteten Teilfächer Allgemeine Psychologie I und II sind ihrer Konzeption nach also keineswegs moderne Neuschöpfungen. Vielmehr sind es spätmoderne Institutionalisierungen rationalistischer Wissenschaftsstrukturen. Dabei erzeugt die Trennung der Teilfächer Allgemeine Psychologie I und II bzw. der Lehr- und Forschungsbereiche Kognition/Sprache und Motivation/Emotion/Handlung mitunter Unbehagen. Oft wird das Argument laut, die vielfachen Verknüpfungen und Gemeinsamkeiten der beiden Teilfächer verlangten eher ihre Integration.

Methodische Besonderheiten der Allgemeinen Psychologie als Funktionenlehre

"Allgemeine Psychologie versucht, Erkenntnisse ... in generell gültige Aussagen zu bringen", formulierte die Studienreformkommission mit einer Portion Skepsis. In der Tat gehört Allgemeingültigkeit von wissenschaftlichen Aussagen zu den Forderungen des Rationalismus, in dessen Nachfolge sich die Allgemeine Psychologie befindet wie keine andere psychologische Richtung. Die oben angemerkte Skepsis erklärt sich aus den inzwischen gewachsenen Zweifeln an der Existenz einer und nur einer allgemein geltenden Wahrheit sowie der Kraft der Vernunft, sich diese Wahrheit anzueignen. Doch hat gerade die moderne Psychologie Methoden für sich entdeckt, deren Anwendung Vorzüge verspricht, die dem Ideal der objektiven Wahrheit verwandt sind - Verläßlichkeit, Verallgemeinerbarkeit und Systematik von Beschreibungen. Es war die Allgemeine Psychologie, welche diese Methoden besonders gepflegt und zu ihrer Fortentwicklung benutzt hat. Die zwei wichtigsten methodischen Ansätze waren das Experimentieren und das mathematische Modellieren.

Das Experimentieren der Allgemeinen Psychologie (Experiment) vollzog sich vor allem in Laboratorien und mit Apparaten (Darbietungs- und Meßapparaturen). Im Planversuch wurden theoretisch bedeutsame Bedingungsvariationen und -kombinationen systematisch durchprobiert. Das sich dabei einstellende Erleben und Verhalten wurde differenziert erfaßt und möglichst objektiv registriert. Ziele waren die Auflösung komplexer psychischer Prozesse und Leistungen in ihre Komponenten sowie ein differenzierter Nachweis ihrer Genese. Beispiele sind die Trennung von Kurzzeit- und Langzeitgedächtnissen (Gedächtnis) sowie die Trennung eines sensorischen und eines motorischen Anteils in Muskelreaktionen.

Mathematische Darstellungen verallgemeinern Begriffe und deren Beziehungen. Insofern können mathematische Modelle von empirischen Befunden Anspruch auf allgemeine Gültigkeit erheben. In der Allgemeinen Psychologie hat man aus diesem Grunde oft mathematische Darstellungen benutzt. Insbesondere in der Wahrnehmungs-, der Lern- und der Entscheidungstheorie haben sich mathematische Modelle als recht aufschlußreich erwiesen (Mathematische Psychologie). Die Allgemeine Psychologie hat sich weiterhin zunehmend statistischer Methoden bedient, um Mittelwerte als Kollektivmaße zu bestimmen (Statistik). Die Erwartung war, daß Kollektivmaße weniger von Fehlern behaftet sind und den auf sie gestützten Aussagen mehr Allgemeingültigkeit zukommt. Allerdings wurde dem gerade in der Allgemeinen Psychologie entgegengehalten, daß die Varianz um Mittelwerte bedeutsame Information enthält, die der experimentellen Aufklärung bedarf; zur Allgemeingültigkeit trage daher die experimentelle Analyse mehr bei als die statistische. Im übrigen zeichnet sich die Allgemeine Psychologie bei der Entwicklung und Anwendung von statistischen Verfahren keineswegs vor anderen psychologischen Fächern aus.

Allgemeine Psychologie als Metatheorie

Die Studienreformkommission hat schließlich angeregt, innerhalb der Allgemeinen Psychologie möge "historischen Entwicklungen, Erweiterungen und Gewichtsverschiebungen angemessen Rechnung getragen werden"; es biete sich "die Chance, ein zusammenhängendes Verständnis der derzeitigen anthropologischen Perspektive der Psychologie zu vermitteln" (Kultusministerkonferenz, 1985, S. 14). Solche Empfehlungen bestärken die Allgemeine Psychologie in einer Rolle jenseits der oben geschilderten Lehre von den psychischen Funktionen: als Metapsychologie bzw. als Metatheorie aller oder einiger psychologischen Fächer. Themen für eine solche Metatheorie sind: strukturelle Zusammenhänge zwischen psychologischen Lehr- und Forschungsprogrammen, Erkenntnistheorie für Psychologen, Soziologie der Psychologie als Wissenschaft und Beruf, Geschichte der Psychologie. Allerdings gedeihen solche Themenschwerpunkte auch ohne ausdrückliche Einbindung in die Allgemeine Psychologie. Zum Beispiel wird Geschichte der Psychologie an einzelnen Orten als Teil der Allgemeinen Psychologie gelehrt, an anderen Orten bildet sie ein selbständiges Studienprogramm.

Literatur

Enzyklopädie der Psychologie (1983ff.). Serie C. Theorie und Forschung. (Band 2. Kognition. Band 3. Sprache. Band 4. Motivation und Emotion.). Göttingen: Hogrefe.

Hegel, G. W. F. (1970). Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Werke (Band 10), (hrsg. von E. Moldenhauer & K. M. Michel). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. (Original erschienen 1830).

Kremer, K. (1984). Ontologie. In J. Ritter & K. Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie (Band 6, S. 1189-1198). Basel: Schwabe.

Kultusministerkonferenz (1985). Empfehlungen der Studienreformkommission Psychologie. Bonn: Sekretariat der Kultusministerkonferenz.

Schönpflug, W. (2000). Geschichte und Systematik der Psychologie. Weinheim: Beltz/Psychologie VerlagsUnion.

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