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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Kunstpsychologie

Autor
Autor:
Irene Roubicek-Solms





Gegenstandsbereich

Dem Gegenstandsbereich nach ist die Kunstpsychologie ein Abkömmling der philosophischen Ästhetik, die sich traditionell als die "Wissenschaft vom Schönen und der Kunst" definierte. Die Kunstpsychologie befaßt sich mit psychologischen Aspekten der Aufnahme und Schöpfung von Werken der verschiedenen Kunstgattungen und darüber hinaus mit dem ästhetischen Erleben auch jenseits der Kunst. In der Entwicklung der akademischen Psychologie wurden ab der Mitte des 20. Jahrhunderts ästhetische Fragestellungen, die noch zu Beginn des Jahrhunderts starke Resonanz bei der Generation der Gründer der wissenschaftlichen Psychologie fanden, zur Randerscheinung ohne institutionelle Verankerung.



Kunstwerk und soziale Wertung

Die Rede vom "Kunstwerk" enthält eine Wertung: Kunst wird von Nicht-Kunst abgehoben, etwa der "bloßen" Gefälligkeit eines Dings, der Unterhaltsamkeit eines Geschehens. Die traditionelle Ästhetik bemühte sich um die Rechtfertigung entsprechender Wertungen. Die Kunstpsychologie sollte, gemäß modernem wissenschaftlichem Selbstverständnis, diese normative Differenzierung dagegen sozusagen von außen betrachten, das Bedürfnis nach entsprechender Wertung selbst zum Gegenstand der Untersuchung machen. Das weist auf die sozialpsychologische Dimension des ästhetischen Erlebens und Verhaltens hin, die etwa von der Soziologie der sozialen Schichtung untersucht wurde. In zahlreichen Publikationen zur Kunstpsychologie werden allerdings Wertungen hinsichtlich Kunst und Nichtkunst unreflektiert übernommen oder eingeführt. Eine Gratwanderung zwischen ideologischer Legitimation und wissenschaftlicher Beschreibung und Analyse sind andererseits die Versuche, etwa den Unterschied von Kunst und Kitsch ausdrücklich zu thematisieren. Hinsichtlich des normativen Gehalts des Kunstbegriffes lavieren Kunstpsychologen einerseits zwischen Affirmation und Analyse. Anderseits operiert ein Teil der kunstpsychologischen Forschung schon von der Methodik her mit einem antielitären Begriff des ästhetischen Erlebens: das Gefallen der Mehrheit ist das Kriterium des ästhetischen Charakters (Präferenz-Paradigma). Nicht zuletzt auf Basis dieses methodisch vogegebenen Populismus sehen sich Psychologen, die sich mit ästhetischen Fragen beschäftigen, gerne in den Spuren von Gustav Theodor Fechner, der in seiner 1876 erschienenen "Vorschule der Ästhetik" die Parole einer "Ästhetik von unten" ausgab. Die Erforschung des ästhetischen Erlebens kann sich also nicht auf Produktion und Rezeption der kanonisierten Kunst beschränken. Eine juristische Dimension erhält die - wissenschaftlich nicht begründbare, sondern lediglich konstatierbare - Qualifikation als "Kunst" gegenüber purem sinnlichem Genuß im Falle der zensurrelevanten Gegenüberstellung von erotischer Kunst und Pornographie.



Ästhetisches Erleben: wertende Wahrnehmung

Das dem Kunstbegriff inhärente Wertproblem hat seinen Ursprung darin, daß Wertung und ästhetisches Erleben nicht zu trennen sind. Das Schöne und das Häßliche, das Erhabene und das Schreckliche sind Kategorien, die sich auf ein Wahrnehmen oder Vorstellen mit deutlichem affektivem, und d.h. wertendem, Akzent beziehen. Der Bereich des Ästhetischen liegt im Schnittpunkt von Wahrnehmung, im umfassenden, sensuellen sowie intellektuellen Sinn und Gefühls- sowie Triebleben. "Geschmack" weist in seiner ursprünglichen Bedeutung auf die Einheit von Wahrnehmung und Stellungnahme im ästhetischen Erleben hin. Es ist wohl kein Zufall, daß ein Bereich der Sinneswahrnehmung, der unmittelbar mit Genuß oder Widerwillen gekoppelt ist, zur Metapher für den ästhetischen Aspekt auch der Wahrnehmung in anderen Sinnesmodalitäten wird. Auf der anderen Seite erntet man Erstaunen oder Heiterkeit, wenn man "Kochkunst" ernstlich als solche betrachtet. Die zwiespältige Würdigung des Geschmackssinnes in ästhetischer Hinsicht berührt ein Themenfeld der Kunstpsychologie, das unter dem Motto "Wettstreit der Künste" bereits von der traditionellen Ästhetik aufgegriffen wurde: die spezifische Rolle der Sinnesmodalitäten im ästhetischen Erleben im Allgemeinen und ihre Nähe zur Kunst im Besonderen. Die phänomenologisch orientierte Wahrnehmungspsychologie ist hier richtungsweisend.



Theorien ästhetischer Wirkung

Entsprechend den faktischen Schwerpunkten der Kunst finden Aspekte von visueller und akustischer Wahrnehmung die stärkste Beachtung der Kunstpsychologie. Dabei stieß man allerdings immer wieder auf intermodale Zusammenhänge (Synästhesie) und transmodale organismische Resonanzen (Spannungszustände, Bewegungsimpulse). Letztere gaben Anlaß zu umfassenden theoretischen Erklärungsversuchen (Einfühlung, Erregungsniveau, optimales). Eine transmodale Qualität der Objekte ist auch ihr Informationsgehalt, der am Verhältnis von Ordnung und Komplexität gemessen wird. Dieses Merkmal wurde in der Pionierphase von Kybernetik und Digitalisierung als theoretischer Universalschlüssel favorisiert (Informationsästhetik). Auf einer konkreteren Ebene als der der Information hat die Gestaltpsychologie Strukturgesetze der Wahrnehmung untersucht und in Zusammenhang mit der Rezeption von Kunst gebracht. Würde sich die Kunst bzw. das ästhetische Erleben danach richten, auf welche Erscheinungen der theoretische Zugang am besten zugeschnitten ist, wären sie angesichts der genannten prominenten Zugänge auf ungegenständliche und farblose Objekte beschränkt. Der Inhalt, d.h. die Geschichten, die Kunstwerke der verschiedenen Gattungen, vom Bild bis zur Oper, auf je spezifische Art "erzählen", fällt tatsächlich in starkem Maß unter den Tisch. Das gilt auch für die jeweilige Inszenierung von Geschichten, also nicht zuletzt die atmosphärischen bzw. expressiven Aspekte von Gestaltung. So spielt selbst die Wirkung von Licht und Farbe in der Kunstpsychologie eine untergeordnete Rolle.

Eine Ausnahme von der Inhaltsvergessenheit bilden psychoanalytische Beiträge zur Kunstpsychologie. Sie machen bei aller kritisierbaren Einseitigkeit der Interpretation die Bedeutung der Triebe, nicht zuletzt der Sexualität, für Produktion und Genuß von Kunst unübersehbar. Neben psychoanalytischen Deutungen haben hermeneutisch orientierte Untersuchungen, vor allem in der Literaturwissenschaft, die bedeutende Rolle auch negativer Gefühle für das ästhetische Erleben kenntlich gemacht: Angst und Schrecken sind für einen Teil der Kunst wesentlich. Solche Werke ziehen das Publikum offensichtlich dadurch in ihren Bann, daß sie Fährnisse und Abgründe menschlicher Existenz aus einer schützenden Distanz vorstellig machen. In der zeitgenössischen Kunstpsychologie findet dieser Bereich von Erscheinungen, der in der klassischen Ästhetik als das "Erhabene" vom "Schönen" abgegrenzt wurde, kaum Beachtung. Das interdisziplinäre Feld, in dem Kunstpsychologie sich diesbezüglich einzubringen hätte, umfaßt anthropologische Zugänge (vergleichende Religionswissenschaft, Ethnologie) ebenso wie Formen der Medienforschung (Literaturwissenschaft, Filmanalyse).



Spezifischer Bewußtseinszustand

Ein Mehr oder Minder an Wertschätzung eines Wahrnehmungsgegenstandes ist nicht gleichbedeutend mit Vorliegen oder Ausbleiben eines "ästhetischen Erlebnisses" im emphatischen Sinn. Der Unterschied zwischen Stufen des Gefallens und der besonderen Art der Zuwendung, die von Kunstwerken - oder allgemeiner: spezifischen Wahrnehmungsangeboten - ausgelöst werden kann, wird innerhalb der Kunstpsychologie erstaunlicherweise kaum reflektiert (Cupchik, 1992). Teils ist dieses Defizit methodisch bedingt: Untersuchungen nach dem verbreiteten Bevorzugungs-Paradigma provozieren Werturteile, die nicht erkennen lassen, ob oder wie die jeweilige Vorlage im spontanen Erleben gewürdigt worden wäre. Umschreibungen wie "Berührt-", "Ergriffen-" oder gar "Entrücktwerden", mit denen bezeichnet wird, was Kunstwerke auslösen können oder zumindest sollen, heben den ästhetischen Wahrnehmungsakt unverkennbar vom alltäglichen Fungieren der Wahrnehmung ab. Konzepte aus der Psychologie des Spiels (Funktionslust; Flow-Erlebnis) helfen diese Besonderheit zu verstehen. Das Außergewöhnliche des ästhetischen Erlebens wurde und wird durch zeitliche und örtliche Hervorhebung unterstützt. Religiöses Ritual, Fest, Theateraufführung, Konzert und Museum rahmen den Erlebnisstrom und schaffen so einen Freiraum für den Genuß am Wahrnehmen selbst. Auch Bilderrahmen dienen der Inszenierung ästhetischer Betrachtung. Naturwüchsige Formen der Rahmung spielen offenbar bei der ästhetischen Umweltwahrnehmung (Landschaftserleben; Fernblick) eine Rolle. Die Konzentration der Kunstpsychologie auf strukturelle Merkmale der wahrgenommen Objekte brachte die Vernachlässigung des Aspekts der materiellen und sozialen Rahmung von Kunst mit sich. Einschlägige psychologische Aspekte werden eher von soziologischen, ethnologischen und medien- bzw. kommunikationswissenschaftlichen Ansätzen angesprochen. Gerade Erscheinungen der Kunst des 20. Jahrhunderts (Ready made; Aktionskunst/Performance) erschließen sich in erster Linie unter dem Gesichtspunkt der Inszenierung.



Motive des Gestaltens

Das Schaffen von Kunstwerken wurde in verschiedener Hinsicht zum Thema der Kunstpsychologie. Einmal geht es um Psychologie bzw. Psychopathologie der Persönlichkeit von Künstlern. Darauf konzentrierte sich die psychoanalytische Kunstpsychologie. Zum anderen wird allgemein, d.h. in einem anthropologischen Sinn, nach Motiven und Prozessen von Gestaltung, die über praktische Bedürfnisse hinausgeht, gefragt. In der zeitgenössischen Kulturpsychologie wird das Motiv betont, eine Spur zu erzeugen und zu hinterlassen, um die Differenz von Ich und Nicht-Ich, Mensch und Welt, zu überbrücken (Boesch, 1983). Das konkrete Wie der Gestaltung, etwa das universell feststellbare Erzeugen hörbarer oder sichtbarer Rhythmen, erfordert eine spezifischere Betrachtung, nicht zuletzt die Klärung des Verhältnisses von Gestaltung und körperlicher Organisation des Menschen. Die Unterstellung, Kunst transzendiere immer praktische Zwecke, ist allerings nicht unproblematisch: Körperschmuck etwa, eine der "Urformen" von Kunst, läßt sich mit Markierung von Gruppenzugehörigkeit, der Biologie der Partnerwahl sowie magischer Erweiterung der Körperkräfte bzw. magischer Gefahrabwehr in Verbindung bringen; solche Thesen finden sich in Humanethologie (Ethologie), Ethnologie und neuerdings Evolutionspsychologie. Soziale und magische Zwecke und ein Zusammenhang zu religiösen Ritualen lassen sich auch bei kleineren Objekten (vom Fetisch bis zum verzierten Werkzeug) und nicht zuletzt bei Höhlengemälden nachweisen oder vermuten. Religiöse und im weitesten Sinn politische Motive spielen, wie die Kunstgeschichte lehrt, auch bei der Kunst in historischer Zeit eine Rolle.

Ein mit den magisch-mythischen Quellen der Kunsterzeugung verbundenes Thema ist die Frage nach der Rollen- bzw. Arbeitsteilung von Produzent und Publikum. Neben der Hythothese einer Ungeschiedenheit von Machen und Aufnehmen in vor- und frühgeschichtlichen musisch-tänzerischen Ritualen stehen Indizien für ein Spezialistentum bei der Herstellung steinzeitlicher Höhlengemälde. Wahrscheinlich erscheint ein Nebeneinander von ritueller Involvierung aller Beteiligten und Ansatz zur Rollen- und Arbeitsteilung im religiösen Kontext (Schamanismus). Im modernen bzw. zeitgenössischen Kult um den Künstler läßt sich in dieser Perspektive ein Atavismus vermuten.



Stil und Stilwandel

Die Beutung von Stil und Stilwandel wurde und wird nicht von Psychologen, sondern unter Rückgriff auf psychologische Konzepte von Kunsthistorikern untersucht. Dabei geht es um einen Zusammenhang von epochalen bzw. kulturtypischen Mentalitäten und Gestaltungs- bzw. Wahrnehmungsweisen (etwa: überbordende, "barocke" Sinnlichkeit vs. "klassische" Strenge). Berühmt wurde die Deutung ornamentaler Kunst (vs. abbildende) aus dem Motiv der Angstabwehr durch Ordnungsstiftung in Wilhelm Worringers zuerst 1908 erschienenem Buch "Abstraktion und Einfühlung". Ein weiteres außerhalb des Faches Psychologie diskutiertes Thema einer historischen Wahrnehmungspsychologie ist etwa die Frage nach den Gründen für die "Entdeckung der Landschaft" in der nachmittelalterlichen Malerei. Die Stilentwicklung im 20. Jahrhundert ist teils durch eine Rezeption psychologischer Themenfelder, Theorien und einzelner Forschungsbefunde durch Künstler gekennzeichnet (z.B. Kinderzeichnungen, Kunst und Psychopathologie, das Unbewußte, Synästhesie).



Ausblick

Ein möglicher Beitrag der Kunstpsychologie zu den meisten der angesprochenen Fragestellungen setzt sachliche und methodische Offenheit voraus, die in der Psychologie um die Mitte des 20. Jahrhunterts gegenüber dem Kriterium experimenteller Erforschbarkeit stark in die Defensive gerieten. Dieses Desiderat steht nicht im Gegensatz zu Fechners Schlachtruf "Ästhetik von unten!", der gegen eine Denkweise gerichtet war, die nicht analysiert, sondern dekretiert. Will die Kunstpsychologie nicht eine "Ästhetik am Rande" bleiben, steht sie vor der Notwendigkeit zur Grenzüberschreitung, nicht zuletzt der Herausforderung, kultur- und biowissenschaftliche Zugänge zu integrieren.

Literatur

Boesch, E. E. (1983). Das Magische und das Schöne. Stuttgart: Frommann-Holzboog.

Cupchik, G. C. (1992). From perception to production: A multilevel analysis of the aesthetic process. In G. C. Cupchik & J. László (Eds.), Emerging visions of the aesthetic process (83-99). Cambridge (N.Y.): Cambridge University Press.



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