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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Evolutionspsychologie

Autor
Autor:
Klaus-Dieter Zumbeck

Evolution von Erkennungsstrukturen

Evolutionspsychologie zieht aus systematischen Verhaltensvergleichen zwischen Mench und Tier oder zwischen Menschen verschiedener kultureller Epochen Schlüsse, welche Bedingungen und Faktoren in den langen erdgeschichtlichen Zeiträumen der Evolution gegeben waren und welche Wirkungen davon auf psychische Eigenschaften ausgegangen sind. Bereits vor der Entstehung des Lebens haben die Bewegungen unseres Planetensystems psychologisch wesentliche Eigenschaften geschaffen: Die Neigung der Erdrotation um die Sonne erzeugt den Wechsel der Jahreszeiten. Damit sind Rhythmen im Wachstum sowie in Grundstimmungen von Mensch und Tier verbunden. Die Rotation des Mondes um die Erde und der Erde um sich selbst schaffen Zyklen, die Wachstum und Wohlbefinden vor allem der höheren Lebewesen betreffen. Von den frühen chemischen Verbindungen bis zu den Vorstufen organischer Makromoleküle hat es mehrere hundert Millionen Jahre gedauert. Die Entstehung von Wechselwirkungen zwischen instruktionsfähigen Nukleinsäuren und Proteinen führte mit der DNS zur Informationsübertragung bei Vererbungsvorgängen. Mit der Bioevolution beginnen Bakterien Sauerstoff zu erzeugen und zu nutzen. Dadurch erhält die Energiegewinnung wesentliche Impulse. Mit ihr wurde der Weg frei zu höheren, vielzelligen Organismen. Ihre Entwicklung wird wesentlich durch die Evolutionstheorie von Ch. Darwin erklärt.

Psychoevolution zum Menschen hin beginnt mit z.B. den Extremitäten und ihrer Umformung zur Hand oder mit physiologischen Leistungen, wie z.B. dem binokularen Tiefen- oder dem Farbensehen. Die Entstehung von Netzen aus Nervenzellen und ihre Konzentration in einem zentralen Nervensystem ermöglichen über die Wahrnehmung Vorgänge des Erkennens, Entscheidens und der Steuerung von Verhaltensweisen.

Abb.1 ordnet psychologisch relevante Funktionen in den Organismus-Umweltbeziehungen, die während der Evolutionsgeschichte geprägt wurden. Im Zentrum stehen Kreisprozesse, die sich in der Wechselwirkung zwischen Information und Verhalten ausbilden. Aktivitäten greifen ein in die Umwelt. Deren Reaktion (oder Aktion) wird vom Organismus (bzw. den Sinnesorganen) registriert. Umwelt ist wirksam in Form von Reizen. Als physikalische Größen wirken sie auf Rezeptoren. Sie vermitteln Eigenschaften der Umweltobjekte, ihrer Oberfläche, ihres Geruchs, ihrer Entfernung, Form, Farbe, Bewegung und auch der Intensität, in der sie agieren (Sinne). Bildet man eine Kurve, in der die Häufigkeit der Strahlung und ihre mittlere Energie verrechnet sind, so liegt das Maximum beim Menschen gerade in der Zone sichtbaren Lichts (40-700m), der die größte Unterscheidungsfähigkeit wahrgenommer Dinge ermöglicht. Was die Formwahrnehmung betrifft, so bezeugen die Gestaltgesetze Vorgänge einer adaptiven Verarbeitungsleistung der Sinnesorgane und nachgeschalteter Neuronennetze. Diese (und ähnliche) Ordnungsbildungen unserer Wahrnehmungswelt beruhen auf Neuronenverschaltungen, in denen gesetzmäßige Zusammenhänge unserer Gegenstandswelt ihren Niederschlag gefunden haben. Sie erzeugen eine Tendenz zum rationellen Erkennen in einer sehr komplexen Welt (Riedl, 1992).

Gestalttendenzen reduzieren Information, indem sie Komplexes zu einheitlichen Gebilden zusammenfassen. Ähnliches gilt für die Tiefenwirkungen von Licht und Schatten. Die Sonne war in evolutionären Zeitdimensionen die einzige Lichtquelle. Zeichnet man einen Kreis und füllt ihn von oben dunkel aus und läßt ihn zur Mitte heller werden, dann sieht man ihn als Hohlkugel, so, als würden Sonne oder Mond von oben hineinscheinen. Es ist eine adaptive Erkennungsleistung. Das Erkennen komplexerer Strukturen, z.B. eines Elterntieres, ist bei früh lauffähigem Nachwuchs überlebenswichtig. Derart vererbte Erkennungen beruhen auf der Bestimmung von Ähnlichkeiten unter Artgenossen. Nervenzellgruppen können solche gemeinsam auftretenden Merkmalspools als Ähnlichkeiten erkennen und sie bis zur Individualerkennung des Partners oder Muttertieres verfeinern. Stirbt das Muttertier und übernimmt ein anderer Artgenosse die Fütterung, dann wird deren spezifisches Merkmal gestrichen. Jetzt ist vom "Unterbegriff Mutter" aus wieder der Oberbegriff "Artgenosse" gebildet worden. So ähnlich funktioniert auch der Anfang menschlicher Begriffsbildung. Auch unsere Begriffe beruhen auf Klassenbildungen über Merkmalen, die einer Objektmenge gemeinsam sind. Ermöglicht durch die höhere assoziative Kapazität unseres Nervensystems (die ebenfalls durch Evolutionsfaktoren entsteht), können in unserem Gedächtnis den Merkmalsstrukturen für Begriffe noch Phoneme für die sprechbare Lautbildung assoziiert werden. Sie bilden eine Voraussetzung für die Ausbildung von Worten und damit einer Sprache.



Evolution sozialen Verhaltens

Die Soziobiologie schlußfolgert aus tierischem Verhalten, daß bestimmte Verhaltensstrategien gegenüber anderen Organismen einen genetischen Vorteil behalten und sich stabilisieren. Das gilt besonders für Verhaltensmuster, durch die das Überleben von Nachkommen und der eigenen Gene gesichert wird. So macht es Sinn, wenn sich ein Elterntier als Opfer anbietet. Es ist derzeit noch offen, wie universell derartige Strategien sind, bei welchen Arten sie nachweisbar sind und bei welchen nicht. Allgemein gilt aber, daß höhere Lebewesen nicht vereinzelt leben. Soziale Organisationsformen - der Schwarm, das Rudel, die Horde, die Herde, der Trupp, die Gruppe, der Verband u.a. - dienen zumeist der Sicherung des Energiebedarfs, der Pflege des Nachwuchses, dem Schutz vor Raub oder Überwältigung der Gruppe oder ihrer Teile durch Klimastreß, Raubtiere oder überfallende Horden. Ein evolutionärer Trend geht dahin, daß mit der Höherentwicklung der Arten die Variabilität möglicher Strukturformen und damit die Flexibilität der sozialen Gruppenbildungen zunimmt. Das zeigt sich schon im "Familienleben" vormenschlicher Primaten (Lewin, 1992). Bei Gefahr oder in Not halten die Gruppen zusammen - wie die Stämme der Hominiden. Die breite Variation der Sozialbeziehungen ermöglicht die für eine Situation vorteilhafte Organisation durch Erfahrungsnutzung. Dabei hängt die Lernfähigkeit auch mit der Entwicklungsstufe und so auch mit dem Intelligenzgrad zusammen. Es sind also nicht primär die sozialen Strukturbildungen, die sich in der Evolution systematisch ändern, sondern es ist die Fähigkeit zur Ausbildung adaptiver intelligenter Organisationsformen des sozialen Zusammenwirkens. Die Variabilität sozialen Verhaltens wird dadurch ein stabilisierendes Element des Zusammenlebens. Mit dieser Befähigung ausgestattet, ist die Entwicklung zu den Hominiden in Gang gekommen (Hominidisierung).

In grober Sicht hat die Anthropogenese drei langdauernde Entwicklungsperioden durchlaufen: die Australopithecinen vor 3,5 bis vor 2 Millionen Jahren. Für sie ist die Oldowan-Kultur charakteristisch (Abb. 2, a: Stein mit scharfer Kante für vielfältige Nutzung). Dann die Homo habilis-Homo erectus-Zeit mit Homo ergaster sowie Homo heidelbergensis (neben anderen Artunterscheidungen) zwischen 1,8 Millionen und 200 000 und schließlich die Homo sapiens-Periode mit dem Neandertaler (150.000 - 30.000 v.u.Z.) und dem Homo sapiens sapiens vom Cro Magnon-Typ (120/130.000 - Gegenwart).

Der erste evolutionspsychologisch bedeutsame Einschnitt liegt zwischen den Australopithecinen und dem Homo habilis. Es ist der Übergang zwischen dem Oldowan-Werkzeug (Oldowan-Kultur) und dem Faustkeil vom Acheuléen-Typ (Abb. 2, b, frühes Beispiel: Behauener Faustkeil zum Schneiden). Ihm folgt in der späten Homo erectus-Zeit der nach Moustérien benannte, rationalisiert hergestellte Abschlagstein mit retouschierenden Nachbearbeitungen seiner Ränder (Abb. 2, c). Beides war eiszeitliche Gerätschaft und läßt auf verschiedene Übergänge zu systematischem Jagen schließen. Mit ihm entsteht die planende Organisation kollektiver Unternehmungen, auch des Sammelns und des Fallenbaus.



Begriffe, Wortbildungen, Sprache

Klassifizierendes Erkennen setzt lange vor der Menschwerdung ein. Es ist auch eine Voraussetzung für die Ausbildung von Sprache. Die lernabhängige Übertragung von Lautbedeutungen ist bei vormenschlichen Primaten beschrieben. (Affen erkennen durch Lautsprecher den Ruf eines Adlers oder eines Leoparden). Doch ist dieses Bedeutungserkennen nicht mit der Lautbedeutung in einem menschlichen Wortgedächtnis zu verwechseln, auch das Klassifizieren nicht. Mit der steigenden Kapazität der Nervensystems entsteht ein motivgerechtes Klassifizieren. Dasselbe Ding wird, je nach Handlungskontext, anders klassifiziert und benannt: Ein Stamm am Amazonas hat für Boote unterschiedliche Worte, je nachdem, ob sie in kriegerischer Mission unterwegs sind oder ob sie Nahrung transportieren. Ähnlich dürften die Benennungsgewohnheiten der Homo erectus gewesen sein. Sie zogen im Norden des Roten Meeres nach Asien, Georgien und nach China. Solche Züge über die Jahrhunderte sind ohne wählbare Kommunikation über bedeutungshaltige Zusammenhänge unmöglich. "Sprachverstehen" erfolgte weitgehend ohne Grammatik über nominale Wortketten (Abb. 3, Mitte).

Hochsprachliche grammatische Fügungen dürften mit dem konstruktiven Werkzeugdenken des frühen Cro Magnon-Typs entstanden sein. Das bedarf gewiß noch der näheren Analyse. Diese Hypothese stützt sich auf die strukturellen Ähnlichkeiten zwischen kombinatorisch konstruierten Geräten wie z.B. Steinsäge , Riemenschneider, Harpunen auf der einen Seite und kombinatorischen begrifflichen Klammerungen zum Zwecke der Bedeutungsgruppierung auf der anderen Seite.

Benennungen für räumliche oder zeitliche Relationen in Ereignissen sind Quellen hochsprachlicher grammatischer Formbildungen. Im Deutschen werden sie in Präpositionen ausgedrückt. Als nicht eigenständige Funktionswörter können sie in anderen Sprachen auch durch Flexionen der Wortstämme morphologisch integriert sein. Abb. 3 zeigt evolutionsgenetische Phasen in den Zusammenhängen zwischen Erkennen und Sprachbenutzung.



Sozial geformte Weltbilder

Die Herausbildung des neuzeitlichen Menschen ist im Zeitraum zwischen 180.000 und 110.000 vor unserer Zeitrechnung geschehen. Historische Analysen zeigen, daß eine - wie damals - über längere Zeiträume gesicherte Ernährungsgrundlage zu ansteigender Bevölkerungsdichte führt, die widerum veränderte Sozialstrukturen erzwingt. Die Regeln des Zusammenlebens ändern sich mit veränderter Besiedlungsdichte eines Gebiets. Etwa 110.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung begann eine neue Kaltzeit. Die Nahrung schwand, die Menschengruppen zogen nach Norden. Die Funde dieser ersten Neumenschen liegen in Israel und in Jordanien (ca. 90.000 Jahre alt). Die Schädelformen bezeugen Neumenschen vom Cro Magnon-Typ (Homo sapiens sapiens) Die ziehenden Gruppen nutzten Höhlen, schufen längerfristige Winterlager. Aufenthaltsstätten finden sich in Spanien, Portugal und Südfrankreich. Man hatte aus der Eem-Warmzeit Lebensformen mitgebracht, die dort in Höhlen gefunden wurden: Es war ein Stammesleben mit Gebots- und Verbotsregeln für Nahrung, Jagd und Alltagsleben entstanden. Eine Differenzierung der Zuständigkeiten wurde in der Generationenfolge weitergegeben. Archaisches Denken bestimmte ein neues Weltbild. Ein Totem war oft Symbol für eine innere Verwandtschaft aller Stammesmitglieder, für ein neues Weltbild: Mit Ritualen, Mythen, Zauber und Schamanen wurde versucht, das Gemeinwesen stabil zu halten und dazu auch ein Stück Zukunft zu erschauen oder durch Zauber herbeizuzwingen (Totem und Tabu). Mißernten oder Epidemien werden auf Tabuverletzungen zurückgeführt. Unterschieden wurde nun zwischen Töten und Mord, zwischen Wegnehmen und Stehlen, zwischen dem handelnden Selbst und einem Ich, das als eine Art Integrationszentrum für Erleben, Entscheiden und Handeln, für reflexives Denken von Urteilen über Schuld und Sühne fungiert. In diesem Prozeß der Stammesbildung entsteht sozial bestimmtes Bewußtsein. Das spät erst sich ausformende Frontalhirn dürfte die nervale Ich-Repräsentation für sozial motiviertes Handeln beherbergen.



Völker und Staaten

Zum Ende der letzten Kaltzeit, von 18.000 - 12.000 vor unserer Zeitrechnung, gab es an den großen Flüssen (Jangtse, Indus, Nil) durch starke Erwärmungen große Überschwemmungen. Wohlgenährte Tierwelt verblieb in der Region. Wildgetreidesorten säten sich wie von selber aus. Der Regenfeldbau entstand als früheste Form einer Agrokultur. Ziegen und Schafe konnten durch Futtergaben zum Bleiben gebracht und gezüchtet werden. Eine neue Form des Zusammenlebens entstand mit der ansteigenden Bevölkerungsdichte. Es begann die arbeitsteilige Form in der Sozialstruktur eines Gemeinwesens. Saatgut mußte in Behältnissen gespeichert werden. Gefäßemacher nutzten den leicht trocknenden Lehm, Korbmacher die Weidenruten von den Teichen. Wächter wurden bestellt, Aufseher und Kontrolleure. Auch nicht produktive Betätigungen mußten vergütet, Leistungen fürs Gemeinwesen wie Aufwendungen für andere mußten miteinander verglichen und in irgendeiner Form entgolten werden. Der Umgang mit Mengen und ihren Benennungen wurde zum sozialen Erfordernis und führte zu den Zahlbegriffen. Große Mengen wurden (auch gedanklich) gebündelt, Bündelungen neu benannt, wieder gebündelt. So gelang die begriffliche Beherrschbarkeit großer Mengen (Zahlsystem).

Mit der Landkultur wurde das archaische Weltbild der nomadischen Jäger, Sammler und Höhlenbewohner abgelöst. Es entstand eine Götterwelt nach der Schichtung im Gemeinwesen. Von Sumer über Babylon, Ägypten, Griechenland wurden viele der alten Götter umbenannt. Ihre Macht entschied über Regen oder Dürre, über Fruchtbarkeit, über Leben und Tod. Sie mußten durch Opfer versöhnt werden. Die Siedlungsdichte stieg rasch, Stadtstaaten entstanden. Die Macht wurde z. B. im Tempel konzentriert und von ihm aus verwaltet. Die Priesterschicht übte die Gerichtsbarkeit aus. Die Strafen bestanden u.a. aus Verstümmelungen von Gliedmaßen oder Sinnesorganen. Je geringer die Schicht, der man angehörte, um so geringer die Rechte und Ansprüche. In dieser Ordnung des Soziallebens, die bald durch Schrift geregelt wurde, entstand die Beherrschung und Ausbeutung ganzer Bevölkerungsschichten. Im Laufe der Jahrhunderte bilden sich immer wieder Eliten des Denkens und Könnens, die auch das Weltbild hinterfragen, es bezweiflen und die darum sterben müssen oder die es umstürzen und die Führungsschicht verjagen oder liquidieren. Diese Eliten bringen neue Weltbilder auf den Weg, sei es in Gestalt von Religionen, Philosophien oder in der Nutzung von Wissen über die Natur und ihre Zusammenhänge.

Literatur

Riedl, R. (1992). Wahrheit und Wahrscheinlichkeit. Hamburg: P. Parey.

Lewin, R. (1992). Spuren der Menschwerdung. Heidelberg: Spektrum.

Klix, F. (1992). Die Natur des Verstandes. Göttingen: Hogrefe.

Klix, F. (1992). Erwachendes Denken. Heidelberg: Spektrum.

Cheney, D.C. & Seyfart, R.M. (1994). Wie Affen die Welt sehen. Das Denken einer Anderen Art. München: Hanser.

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